Das Tier der Synagoge. Über Tiere und Assimilation bei Kafka
Barbara Di Noi, Parma, Italy
Es wurde schon oft vermerkt, wie eng Tier-Motiv und Judentum bei Kafka zueinander
gehören, ja unzertrennlich verflochten sind: Es hat also den Anschein, als hätte er auf seine
Tiergeschichten das Thema der eigenen jüdischen Abstammung und der damit
zusammenhängenden Assimilation gleichsam in chiffrierter, indirekter Form übertragen
wollen. Freilich kommen Tiere sowohl in den fragmentarischen Notizen wie auch in
ausführlicher Form in den zum Druck bestimmten Texten immer wieder. Das ist der Fall
besonders in der zwischen 1920 und dem Tod entstandenen Produktion. So nimmt etwa
Josefine oder das Volk der Mäuse einen zwischen Parodie und Gleichnis schillernden
Bezug auf die Problematik des Mauschelns.
Ebenso wichtig erscheint das mehrschichtige Thema von Judentum und
Assimilation in einem unbetitelten erzählerischen Fragment, das zum sogenannten
«Hungerkünstler-Heft« gehört und nach Ende Mai 1920 geschrieben wurde. 1 Im
Unterschied zu anderen Tierfragmenten wie etwa Kleine Fabel (Konvolut 1920) erreicht er
einen gewissen Umfang, obwohl er sich zwischen dem regelrechten Status des in sich
vollendeten Textes und dem regelrechten Fragment auf der Kippe hält.
Eben die schwingende Bewegung scheint zu den tiefsten und eigentümlichen Zügen
zu zählen, wodurch sich das Tier der Synagoge auszeichnet. Das Tier – und zugleich der
Text – schwankt ständig zwischen Territorialisierung und Deterritorialisierung und dürfte
wohl dadurch Kafkas Bedenken angesicht der zeitgenössischen Aufschwung zionistischer
Tendenzen zum Ausdruck bringen.
In diesem rätselhaften Tier, das in der Synagoge ansäßig, ihr aber zugleich fremd ist,
kündigt sich jene widersprüchliche Geste an, die sich völlig in Josefine die Sängerin (1922)
1 Vgl . KKA NIIApp. 110.
2
entfalten sollte. Das Tier der Synagoge ist eben in der Synagoge ansäßig; sein Dasein ist
aber alles andere als gesichert. Das Tier lebt fast dauernd in Angst und ist zugleich
angsteinflößend. Es gehört zur Synagoge, fast als wäre es mit deren Architektur verwachsen
und doch scheint es immer auf dem Punkt, sie zu verlassen und die Flucht zu ergreifen.
Einerseits könnte es das tiefste Inbegriff des Judentums verkörpern; andererseits ist es
immer wieder vom „Lärm“ des Gebets erschrocken.
II
Das Tier der Synagoge ist kein Mischwesen, wie das hybride Geschöpf der Kreuzung; es ist
jedoch auch weder Allegorie noch ein symbolisches Tier. Und es ist auch kein zoologisch
nachweisbares Wesen. Zwar scheint es zur Art der Nagetieren zu gehören, etwa wie der
grabende Protagonist von Kafkas letztem Text (Der Bau), oder wie die Ratten der
Erinnerung an die Kaldabahn. Aber sein Wesen wie sein körperliches Aussehen scheint im
Vergleich zu den Tieren genannter Texten noch unfassbarer und geheimnisvoller, ja
rätselhafter zu sein. Eigentlich werden alle Tiergestalten Kafkas der tiefsten Natur des
Gleichnisses gerecht, die eben in der Erkenntnis besteht, dass „das Unfaßbare unfaßbar ist
und das haben wir gewußt“. 2 Es ist vielleicht überspitzt, wenn Deleuze/Guattari behaupten,
alle Erzählungen Kafkas seien Tiergeschichten. Es ist jedoch wahr, dass alle Kafkas
Tiergeschichten parabolischen Charakter besitzen.
Eben das Parabolische hat wohl mit der sprachlichen Strategie zu tun, die wir als
ständige Umkehrung jeder Aussage bezeichnen dürfen. Jede Aussage kippt in ihren
Gegensatz um, ja jede nur anscheinend eindeutige Bedeutung schlägt sich in ihre Antithese
über. Das hat jedoch keine regelrechte Zweideutigkeit, sondern eher eine Kippfigur zur
Folge, die sich ständig zwischen Ansässigkeit, Stabilität und Flucht, Wanderung schwingt.
Das erste vom Text gelieferte Merkmal betrifft die Größe des Tiers. Das Tier, das in
„unserem“ Synagoge lebt, gleicht „in der Größe etwa eines Marders“. Also kein Marder,
aber dem Marder ähnlich nur was die Größe angeht. Hier fängt vom Gesichtspunkt eines
namenlosen, vom außen kommentierenden Mitglieds der jüdischen Gemeinschaft ein
Annäherungsversuch an, der jedoch wie fast alles in diesem Text in sich widersprüchlich
ist: Dem Tier kann man sich annähern, aber „bis auf eine Entfernung von etwa zwei
Metern“. Nur in dieser Entfernung „duldet es das Herankommen“. 3 Eine ähnliche Dialektik
von Neugier und Schrecken, von Schaulust und Blickaskese bestimmt die Haltung des Tiers
den Menschen gegenüber. Die Menschen, zu der es eigentlich die engste Beziehung hat,
sind die Frauen und „sein Lieblingsaufenthalt ist das Gitter der Frauenabteilung“. 4 Das Tier
ist also eigentlich als Figur der Grenze zu bezeichnen.
Frauen sind überhaupt als Figuren der Liminalität ständig am Rand von Kafkas
Texten angesiedelt. Sie entstehen nämlich am Rand oder an der „Falte“ des Blattes. Wie die
meisten Frauen oder Weiber Kafkas ist auch das Tier eine Figur der Antinomie, es steht als
Darstellung für das, was die Schwelle nicht überschreitet, was also nicht dargestellt werden
kann. Eben in seiner Undarstellbarkeit nimmt das Tier der Synagoge zugleich an Judentum
und Schreiben teil. Seine Negativität und Undarstellbarkeit sind schon von den ersten
Zeilen des Textes ersichtlich: Noch niemand hat das Fell des Tiers berührt (das Tier ist also
2 KKA NII, 131.
3 KKA NII, 405.
4 KKA NII, 406.
3
unberührbar, was es zu einer hermetischen und sakralen Dimension erhebt). Auch die
wirkliche Farbe des Fells ist unbekannt und vielleicht stammt eben diese Farbe nur aus
demselben Baumaterial der Synagoge. Also wie gesagt, das Tier ist nicht nur in der
Synagoge ansäßig, sondern ist in deren Architektur eingebettet. Darin ähnelt es einem
Vexierbild, das mal sich vom Hintergrund nicht unterscheiden lässt, mal aber von diesem
plötzlich abhebt.
Nur angesichts der Frauen scheint das rätselhafte Tier eine deutliche Reaktion zu
haben: „mit sichtbarem Behagen krallt es sich in die Maschen des Gitters“. 5 „Krallen“
evoziert als Verb zugleich das Bild von entstellten menschlichen Händen, wie etwa im
mythologischen Text Das Schweigen der Sirenen. Die Entstellung der Hand kommt jedoch
bei Kafka vor allem in Verbindung mit dem Akt des Schreibens vor, was diesen Krallen
ausgesprochen poetologische Bedeutung verleiht; das geht ganz deutlich aus einem
Fragment hervor, 6 dem eben die Stelle über die „Magd vom Berg“ vorangeht:
Traurig lief des Alten Magd vom Berg, trug den Korb mit Äpfeln voll
beladen 7
Eben diese Frauengestalt markiert nach Sabine Gölz jene Grenzzone, 8 an der auch das Tier
der Synagoge anzusiedeln ist. Wie bei der Äpfel tragenden Magd hebt sich der Kopf des
Tiers mit einer vertikalen Linie sacht von der Schriftoberfläche des Blattes: Der Kopf bildet
nämlich den Schwerpunkt des Tiers, das sonst nur aus der horizontalen Fläche des
beschriebenen Körpers besteht. Der Kopf des Tieres wird aufrecht getragen, eben wie in der
darauffolgenden Notiz:
Ich habe meinen Verstand in die Hand vergraben […] aufrecht trage ich den
Kopf, aber die Hand hängt müde hinab, der Verstand zieht sie zur Erde.
Anders als dieses Ich scheint über das Tier keine Schwerkraft zu walten: „niemand hat es
noch auf dem Fußboden gesehen“. 9
Es gehört zum Paradox seiner Natur, dass die Teile seines Körpers untereinander zu
streiten scheinen. Es sind besonders die Zähne, die „fast wagrecht“ vorstehen. Das
Aussehen seines Körpers wirkt nicht gerade beruhigend, so klingt ziemlich ironisch, wenn
gesagt wird, dass das Schrecken nur scheinbar ist:
Es sieht allerdings beim ersten Anblick erschreckend aus, besonders der
lange Hals, das dreikantige Gesicht, die fast wagrecht vorstehenden
Oberzähne, über der Oberlippe eine Reihe langer die Zähne überragender,
offenbar ganz harter heller Borstenhaare, das alles kann erschrecken, aber
bald muß man erkennen, wie ungefährlich dieser ganze scheinbare
Schrecken ist. 10
5 KKA NII, 406.
6 KKA NII, 514: „Ich habe meinen Verstand in die Hand vergraben, gfröhlich, aufrecht trage ich den
Kopf, aber die Hand hängt müde hinab, der Verstand zieht sie zur Erde. Sieh nur die kleine,
harthuautige, aderndurchzogene, faltenzerrissene, hochädrige, fünffingrige Hand…“
7 KKA Ni 514
8 S. Gölz, Wenn Ich zu K. geht…., S. 356.
9 KKA N II 407.
10 KKA N II 406.
4
Eigentlich verleiht ihm der lange Hals und das dreikantige Gesicht den Anschein einer
Schlange. Die Schlange, liest man in einem Zürauer Fragment, war das erste Haustier
Adams (wahrscheinlich nach der Vertreibung aus dem Paradies). Auch das Tier wird als
„Haustier der Synagoge“ bezeichnet.
III
Obwohl in der Synagoge ansäßig, ist das Tier scheuer als ein Waldtier und durch eine
unerlässliche Beweglichkeit charakterisiert. Es kann nirgendwo Ruhe finden; ihm haften die
Unruhe und die Not des ewigen Juden an. Wie der Jäger Gracchus ist das Tier der Synagoge
weder tot noch wirklich lebendig. Es gehört nämlich zu einer anderen Zeitdimension als die
sterblichen Menschen: die Dauer seines Lebens umfasst sogar drei Generationen und es
wird selbst das Ende der Synagoge überleben, die bald zu einem Getreidespeicher werden
könnte. Übrigens wird auch die Gemeinde, die es mit dem Lärm des Gebetes erschreckt,
von Jahr zu Jahr kleiner. Während also alles um das Tier herum von einem unaufhaltsamen
Verfall ergriffen ist, scheint das Tier selbst ewig und zeitenthoben durchzuhalten. Mit dieser
Unwandelbarkeit verbindet sich die akrobatische Fertigkeit des Tiers, eine Art Lust am
klettern, die es in die Nähe der Lufthunde der Forschungen eines Hundes rückt.
Der Sprung charakterisiert seine Beweglichkeit am besten. Zum Sprung und Klettern
ist jedoch das Tier von außen her gezwungen: Man lässt es nämlich nicht zum Gitter der
Frauenabteilung, so hält es sich auf dem schmalen Mauervorsprung der gegenüberliegenden
Wand auf. Dieser Mauervorsprung entspricht architektonisch genau derjenigen Bewegung
der Umkehrung und Umwendung, die typisch für das Tier ist. Am schmalen Weg des
Vorsprungs entlang schreitet nämlich das Tier und wendet wieder, wenn er „am Ende“
angekommen ist. Der schmale Weg am Vorsprung erinnert nämlich an die Zeile oder
Grenze der Schrift, von der Kafka in den Tagebüchern vom August 1914 schrieb:
Kalt und leer. Ich fühle allzusehr die Grenzen meiner Fähigkeit, die, wenn ich
nicht vollkommen ergriffen bin, zweifellos nur eng gezogen sind. Und ich
glaube selbst im Ergriffensein nur in diese engen Grenzen gezogen zu werden
, die ich dann allerdings nicht fühle, da ich gezogen werde. Trotzdem ist in
diesen Grenzen Raum zum Leben, und dafür werde ich sie wohl bis zur
Verächtlichkeit ausnützen.
Die Wende des Tiers entspricht jener Umkehrung des Blicks, die sich im Übergang vom
Schreiben zum Gelesenwerden vollzieht. Das Tier vollzieht diese Wendung in der Luft, und
die Wendung gelingt ihm immer, obwohl das Tier schon sehr alt ist. Das Tier ist für die
Frauen ein „willkommener Vorwand“: das heißt sie lassen sich gerne von seiner Ansicht
vom Beten ablenken. Nur wenn sie mehr mit dem Beten beschäftigt wären, könnten sie das
Tier „völlig vergessen“. Kafka deutet hier eine weitere Antithese an, und zwar die zwischen
dem Beten und der Betrachtung des Tiers. Nur die Frauen, die wirklich fromm beten, lassen
sich vom Tier nicht verlocken oder gar verführen. Die anderen würden hingegen das Tier
noch näher zu sich locken, „um noch mehr erschrecken zu dürfen“. Mit diesem Schrecken
5
hat es doch ein ganz besonderes Bewandtnis, als wäre es noch jetzt mit der Versuchung der
Schlange und dem Verlust des Paradieses verbunden.
IV
Typisch für das Tier der Synagoge ist die Fertigkeit, mit der es am schmalen, kaum zwei
Finger breiten Mauervorsprung entlang laufen kann, um dann, „am Ende angekommen“,
wieder zu wenden; Die körperlichen Beweglichkeit des Tiers gleicht der Geste einer
schreibenden Hand, hat etwas Strophisches an sich: wie die Strophé oder die Schriftzeile
läuft das Tier in einer Richtung, um dann wieder mit einer Umkehrung zum Ursprung, das
heißt zum Anfangspunkt zurückzukommen. Aber das Tier ist zugleich Figur der
Katastrophé, also Figur des Endes, vielleicht sogar des „am Ende angekommenen“
Judentums. Das Tier ist also nicht nur eine Figur der Liminalität, sondern auch eine des
Endes. Als solche verkörpert das Tier das Schreiben und das durch die Assimilation am
Ende angekommene Judentum. Das Tier ist altertümlich und zugleich künftig: seine Zeit
wird erst kommen, wenn alles aufgehört hat zu enden. Ihm haftet anders gesagt eine
messianische Natur an.
Das Ich möchte das erschrockene Tier damit trösten, dass die Gemeinde des
Städtchens immer kleiner und bald auch die Synagoge nicht mehr existieren wird. An ihrer
Stelle wird ein Getreidespeicher entstehen, wo das Tier seine Ruhe bekommen kann. Es ist
jedoch unmöglich, das Tier zu trösten, und zwar aus dem Grund, dass es die Sprache der
Gemeinschaft weder spricht noch versteht.
Am liebsten hat das Tier Ruhe und Stille. Aber das widerspricht wiederum der zum
Gebet bestimmten Synagoge. Der Umstand nämlich, dass ihm Ruhe und Stille ungemein
wichtig sind, sodass der Lärm seine Existenz sogar bedroht, rückt es in die Nähe eines
anderen Tier, des ebenfalls zoologisch schwer zu bestimmenden Tiers von Der Bau:
Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille, freilich ist sie trügerisch,
plötzlich einmal kann sie unterbrochen werden und alles ist zu Ende,
vorläufig aber ist sie noch da, stundenlang kann ich durch meine Gänge
schleichen und höre nichts als manchmal das Rascheln irgendeines
Kleintiers, das ich dann gleich zwischen meinen Zähne auch zur Ruhe
bringe […] sonst ist es still. Die Waldluft weht herein, es ist gleichzeitig
warm und kühl, manchmal strecke ich mich aus und drehe mich in dem
Gang rundum […] 11
Zwischen beiden Tieren lassen sich sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten
feststellen. Bei beiden verweist die Liebe zur Ruhe und Stille, wie auch die Tendenz zur
kreisförmigen Bewegung auf die Struktur des Narzissmus, die dem Akt des Schreibens
zugrunde liegt. 12 Die Stille stellt im Gegensatz zum Lärm der in einer Gemeinschaft
11 Erzählungen
12 Walter H. Sokel, Narzißmus, Magie und die Funktion des Erzählens in Kafkas Beschreibung
eines Kampfes, in Der junge Kafka, hrsg. von Gerhard Kurz, S. 135. Mit Bezug auf die zirkuläre
Struktur jedes einzelnen Abschnitts von Kafkas Erstling Beschreibung eines Kampfes, vermerkt
6
lebenden Menschen das Element des Schreibenden dar: Die Buchstaben der Schrift sind
eben stumm; ein weiterer Berührungspunkt zwischen dem bauenden und grabenden Tier
von Der Bau und dem Tier der Synagoge ist eine besonders enge Beziehung zu ihren
jeweiligen Architekturen: Das Tier von Der Bau identifiziert sich mit dem unterirdischen
Gebäude, das eigentlich aus einem Labyrinth und verschiedenen Burg-Plätzen besteht, wo
er seine Vorräte versammelt hat. Die Synagoge des anderen Tiers scheint zwar keine
Lebensmittel zu enthalten, es wird jedoch gesagt, dass sie bald zu einem Getreidespeicher
umgewandelt werden könnte. Beide Tiere stellen schließlich Betrachtungen an, aber beide
sind zugleich furchtsam und scheu: Furcht und Neugier charakterisieren nämlich ihr
Verhältnis zu der Außenwelt. Ab und zu verschwindet das Tier der Synagoge „offenbar in
irgendeinem Mauerloch, das wir noch nicht entdeckt haben“. Ähnliches gilt für das Tier von
Der Bau; der Bau insgesamt, also das Werk, das er durch das Hämmern mit der Stirn
erschaffen hat, 13 sieht von außen her nur wie ein großes Loch aus:
Ich habe den Bau eingerichtet und es scheint wohlgelungen. Von außen ist
eigentlich nur ein großes Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit
nirgends hin […] 14
Schon aus diesem Zitat, das eigentlich das incipit der Erzählung ist, gehen deutlich
Ähnlichkeiten und Unterschiede mit dem Tier der Synagoge hervor: Beide Texte drehen
sich um Nichtigkeit und Negation: Der Bau, der von außen wie ein Loch, also wie das
Produkt des Grabens aussieht, führt in Wirklichkeit nirgends hin. Bei dem Tier der
Synagoge wird die Negation dadurch in den Mittelpunkt gerückt, dass jeder Satz wie bereits
erwähnt sich in seinen Gegensatz überschlägt. Während das Element des grabenden Tiers
in Der Bau die Erde und die Tiefe ist, ist das Tier der Synagoge eigentlich in der Luft zu
Hause. Immer wieder wird seine akrobatische Fertigkeit unterstrichen. Obwohl es schon
„ein sehr altes Tier ist […] zögert nicht den gewagtesten Luftsprung zu machen, der auch
niemals mißlingt, in der Luft hat es sich umgedreht und schon läuft es wieder seinen Weg
zurück“. 15
Freilich ist die Luft auch das Element der Lufthunde, die dem jungen Hund der
späten Erzählung Forschungen eines Hundes einmal wie eine überirdische Offenbarung
entgegenkamen. Aber die Luft ist eigentlich das Element des Schreibens; die Luft stellt das
Bindeglied zwischen der Schrift und der ab- und aufsteigenden Bewegung des Lebens dar.
Bei dem Tier der Synagoge stehen Neugier und Angst, Lust am Schauen und Streben
nach Verborgenheit nebeneinander. Das Tier möchte alles im Blick halten, ohne angeschaut
zu werden. Daraus seine dauernde Suche nach einem Versteck. Auch auf diesem Punkt
wiederholt sich die Geste der Richtigstellung, mit der das Gesagte widerrufen und korrigiert
wird; es wird zunächst gesagt, dass das Tier sich nach den Frauen sehnt. Es folgt dann die
Verneinung dieser Behauptung, die sogar die anfängliche Geschlecherdifferenz wieder
aufhebt:
Sokel, dass solche Geschehensstruktur genau mit Freuds Begriff des «sekundären Narzißmus«
übereinstimmt.
13 Erzählungen, 409: „die Erde mußte dort geradezu festgehämmert werden, um den großen schön
gewölbten und gerundeten Platz zu bilden. Für eine solche Arbeit aber habe ich nur die Stirn. Mit
der Stirn also bin ich tausend und tausend mal tage- und nächtelang gegen die Erde angerannt
[…]“
14 Erzählungen, 465.
15 NSF II, 408.
7
Aber in Wirklichkeit drängt sich ja das Tier gar nicht zu ihnen [den Frauen],
es kümmert sich, wenn es nicht angegriffen wird, um sie ebenso wenig wie
um die Männer, am liebsten würde es wahrscheinlich in der Verborgenheit
bleiben […] offenbar in irgendeinem Mauerloch, das wir noch nicht
entdeckt haben. Erst wenn man zu beten anfängt, erscheint es, erschreckt
durch den Lärm, will es sehn, was geschehen ist, will es wachsam bleiben,
will es frei sein, fähig zur Flucht, vor Angst läuft es hervor, aus Angst
macht es seine Kapriolen und wagt sich nicht zurückzuziehen, bis der
Gottesdienst zu Ende ist. 16
In einem Brief an Max Brod aus dem Jahr 1922 bezeichnete Kafka sein Schreiben als
„Lohn für Teufelsdienst“; es sei aus einem „Hinabgehen zu den dunklen Mächten“
hervorgegangen; an anderen Stellen brachte er das Schreiben sogar in Verbindung mit der
Magie, indem er auf eine jüdisch-christliche Tradition Bezug nahm. Kafka hat das
Schreiben mit den entgegengesetzten Dimensionen der Tiefe und Verborgenheit und der
Exhibition, des Sich- Zeigens verbunden. Das Rettungsloch, von dem das Tier in Der Bau
seine Betrachtungen anstellt, entspricht dem Loch einer wichtigen Notiz, die aus dem Jahr
1920 stammt und das Wesen des schriftstellerischen Berufs hinterfragt:
Es ist ein Mandat. Ich kann meiner Natur nach nur ein Mandat
übernehmen, das niemand mir gegeben hat. In diesem Widerspruch, immer
nur in einem Widerspruch kann ich leben. Aber wohl jeder, denn lebend
stirbt man, sterbend lebt man. So wie z B der Cirkus von einer Leinwand
umspannt ist, also niemand, der nicht innerhalb der Leinwand ist, etwas
sehen kann. Nun findet aber jemand ein kleines Loch in der Leinwand und
kann doch von außen zusehn. 17
Diese Situation von gleichzeitiger Zugehörigkeit und Entfremdung spiegelt die Einstellung
des Tiers unseres Texts wider, das sich zwischen Neugier und Angst vor einer
hypothetischen Aggression, zwischen Beteiligung und Fremdheit in der Synagoge schwingt.
Die Betstunde in der Synagoge entspricht in dem oben zitierten Fragment dem Brüllen der
Wildtiere im Cirkus, in dem nur wer innerhalb der Leinwand ist, etwas sehen kann. Es ist
allerdings auch möglich, durch ein Loch und nur für einen Augenblick – den Augenblick, in
dem wir leben – von außen etwas zu sehen. Diesem augenblicklichen Anschauen hat jedoch
in dem Angeschautwerden sein Gegenstück: Um etwas sehen zu können, und zwar um
etwas lesen zu können, muss das Tier aus seinem Versteck oder Rettungsloch
herauskommen und ins Freie laufen. Seine Kapriolen geschehen nicht aus Lust, sondern aus
und vor Angst. Es ist die Angst des sich auf dem Fluchtweg befindenden Tiers, die die
künstlichsten akrobatischen Exhibitionen bestimmt. Darin berührt sich das Schicksal dieses
Tiers mit dem vieler Künstler Kafkas, deren Fertigkeit eigentlich aus der Angst und der
Unfähigkeit zu leben entstammt.
Das tiefste Paradox des Tiers besteht nicht so sehr in seiner Zeitenthobenheit, als
vielmehr in der kreisförmigen Struktur seiner Zeitlichkeit, in der das Ende mit dem Anfang
16 Erzählungen, S. 407.
17 NSF II, 320.
8
zusammenfällt. Obwohl das Tier schon seit langem dem Ritual der Synagoge beiwohnt, hat
es sich daran keineswegs gewöhnt und hört nicht auf, vor dem Lärm zu schrecken. Ein
weiteres Merkmal liegt daran, dass das Tier von der theatralischen Beschaffenheit des
jüdischen Rituals angezogen wird; aber auch wenn es die Gemeinde mit seinen blanken
Augen anzusehen scheint, sieht es aber gewiß niemanden an. In diesem Motiv der „blanken,
immer offenen, vielleicht lidlosen Augen“ des Tieres kann man eine Anspielung auf jenes
unaufhörliches Anschauen erkennen, von dem Kafka an einer durchgestrichenen Stelle
seines letzten Romans Das Schloß spricht:
Hat man die Kraft die Dinge unaufhörlich, gewissermassen ohne
Augenschliessen anzusehn, sieht man vieles, lässt man aber nur einmal
nach und schliesst die Augen verläuft sich alles im Dunkel. 18
Die lidlosen Augen des Tiers von der Synagoge wären vielleicht auf Kleist zurückzuführen,
einen deutschen und preußischen Schriftsteller, den Kafka für eigenen Blutsverwandten
hielt.
Das Tier von der Synagoge ließe sich wohl aufgrund seiner seltsamen Ähnlichkeit
mit der Schlange mit der Idee der Sünde und der Vertreibung aus dem Paradies verbinden.
Zugleich wird es jedoch von den Symbolen des jüdischen Rituals und Gottesdienstes
angezogen (Kafka benutzt in diesem Zusammnehang das Verb „locken“, das wie das
verwandte „verlocken“ die Idee von Ablenkung und Verführung beschwört:
[…] manchmal steigt es auch tief zu den Männern hinab, der Vorhang
der Bundeslade wird von einer glänzenden Messingstange getragen, die
scheint das Tier zu locken, oft genug schleicht es hin, dort aber sitzt es
immer ruhig, nicht einmal wenn es knapp bei der Bundeslade ist, kann
man sagen daß es dort stört, mit seinen blanken, immer offenen,
vielleicht lidlosen Augen scheint es die Gemeinde anzusehen, sieht aber
gewiß niemanden an, sondern blickt nur den Gefahren entgegen, von
denen es sich bedroht fühlt. 19
Der Text setzt sein sprachliches Spiel von Rechtfertigung, Widerrufen und Verneinung der
Negation fort: die kommentierende Stimme verneint zunächst, dass das Tier von irgend
einer Gefahr bedroht ist. Dann wird jedoch schließlich gesagt, dass das Tier nicht ganz
sicher in der Synagoge lebt: Man versuchte „vor vielen Jahren“ das Tier von der Synagoge
zu vertreiben. Das ist jedoch wiederum nicht ganz sicher, vielleicht handelt es sich „um
erfundene Geschichten“. Es ist wohl möglich, dass hier die Krankheit und Unsicherheit der
Tradition parodiert wird. Auf dem Punkt, ob das Tier im Gotteshaus bleiben dürfe, waren
die Meinungen geteilt. In Wirklichkeit war es unmöglich, es zu vertreiben.
Kafkas Parodie über katastrophische Wahrsagungen, die dem Judentum einen nahen
Tod prophezeien, ist durch tiefe Zweideutigkeit geprägt: Die Parodie wendet sich zugleich
gegen das Judentum, das genau wie das Tier uralt, tot und immer lebendig zugleich ist.
Diese Kontinuität und unaufhörliches Dasein des Tiers fällt eigentlich mit dem
Charakteristischen dieser Welt zusammen, von dem Kafka in einem Zürauer Fragment
geschrieben hatte:
18 Das Schloß, App. 276.
19 NSF II, 409.
9
Das entscheidend Charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit.
In diesem Sinn haben Jahrhunderte nichts vor dem augenblicklichen
Augenblick voraus. Die Kontinuität der Vergänglichkeit kann also keinen
Trost geben; daß neues Leben aus den Ruinen blüht beweist weniger die
Ausdauer des Lebens als des Todes. 20