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Heft 6

6 Mai 1912 11 Uhr zum erstenmal seit einiger Zeit vollständiges Mißlingen beim Schreiben. Das Gefühl eines geprüften Mannes.

Traum vor kurzem: Ich fuhr mit meinem Vater durch Berlin in der Elektrischen. Das Großstädtische war vorgestellt von unzähligen regelmäßig aufrechtstehenden zweifarbig gestrichenen, am Ende stumpf abgeglätteten Schlagbäumen. Sonst war alles fast leer, aber das Gedränge dieser Schlagbäume war groß, Wir kamen vor ein Tor, stiegen ohne es zu fühlen aus, traten durch das Tor ein. Hinter dem Tor stieg eine sehr steile Wand aufwärts, die mein Vater fast tanzend erstieg, die Beine flogen ihm dabei so leicht wurde es ihm. Es lag sicher auch einige Rücksichtslosigkeit darin, daß er mir gar nicht half, denn ich kam nur mit der äußersten Mühe, auf allen Vieren, häufig wieder zurückrutschend hinauf, als sei die Wand unter mir steiler geworden. Peinlich war dabei auch, daß sie mit Menschendreck bedeckt war, so daß mir Flocken davon vor allem auf der Brust hängen blieben. Ich sah sie mit geneigtem Gesicht an und fuhr mit der Hand darüber hin. Als ich endlich oben war, flog mir gleich mein Vater, der schon aus dem Innern eines Gebäudes kam, an den Hals und küßte und drückte mich. Er hatte einen mir aus der Erinnerung gut bekannten altmodischen, kurzen, im innern sophaartig gepolsterten Kaiserrock an. "Dieser Dr. von Leyden! Das ist doch ein ausgezeichneter Mensch" rief er immer wieder. Er hatte ihn aber durchaus nicht als Arzt besucht sondern nur als kennenswerten Mann. Ich hatte ein wenig Angst, daß ich auch zu ihm hineinmüßte, es wurde aber nicht verlangt. Links hinter mir sah ich in einem förmlich mit lauter Glaswänden umgebenen Zimmer einen Mann sitzen, der mir den Rücken zuwandte. Es zeigte sich, daß dieser Mann der Sekretär des Professors war, daß mein Vater tatsächlich nur mit ihm gesprochen hatte und nicht mit dem Professor selbst, daß er aber irgendwie durch den Sekretär hindurch die Vorzüge des Professors leibhaftig erkannt hatte, so daß er in jeder Hinsicht zu einem Urteil über den Professor genau so berechtigt war, wie wenn er persönlich mit ihm gesprochen hätte.

Lessingteater: Die Ratten

Brief an Pick, weil ich ihm nicht geschrieben habe. Karte an Max, aus Freude über Arnold Beer.

9. V. (1912) Gestern abend mit Pick im Kaffeehaus.

Wie ich mich gegen alle Unruhe an meinem Roman festhalte, ganz wie eine Denkmalsfigur die in die Ferne schaut und sich am Block festhält.

Trostloser Abend heute in der Familie. Die Schwester weint wegen Ihrer neuen Schwangerschaft, der Schwager braucht Geld für die Fabrik, der Vater ist aufgeregt wegen der Schwester, wegen des Geschäfts und wegen seines Herzens, meine unglückliche zweite Schwester, die über alles unglückliche Mutter und ich mit meinen Schreibereien.

22. Mai (1912) Gestern wunderschöner Abend mit Max. Wenn ich mich liebe, liebe ich ihn noch stärker. Lucerna. Madame, la mort von Rachilde. Traum eines Frühlingsmorgens. Die lustige Dicke in der Loge. Die wilde mit der rohen Nase, dem aschebestaubten Gesicht, den Schultern die sich aus dem übrigeng nicht dekolltierten Kleide drängten, dem hin und her gezerrten Rücken, der einfachen weißgetupften blauen Bluse, dem Fechterhandschuh, der immer zu sehen war, da sie die Rechte meistens auf dem rechten Schenkel der neben ihr sitzenden lustigen Mutter ganz oder auf den Fingerspitzen ruhen ließ. Die über den Ohren gedrehten Zöpfe, nicht das reinste hellblaue Band auf dem Hinterkopf, das Haar vorn im dünnen aber dichten Büschel geht rund um die Stirn und vorn weit über sie hinaus. Ihr warmer, faltiger, leichter, nachlässig vor lauter Schmiegsamkeit hängender Mantel, als sie bei der Kassa unterhandelte.

23 (Mai 1912) Gestern: hinter uns fiel ein Mann vor Langweile vom Sessel. Vergleich von Rachilde: die sich an der Sonne freuen und von den andern Freude verlangen, sind wie Betrunkene die in der Nacht von einer Hochzeit kommen und ihnen Entgegenkommende zwingen, auf das Wohl der unbekannten Braut zu trinken.

Brief an Weltsch, ihm das Du angetragen

Gestern guter Brief an Onkel Alfred wegen der Fabrik. Vorgestern Brief an Löwy

Jetzt abends vor Langweile dreimal im Badezimmer hintereinander mir die Hände gewaschen.

Angst vor dem Alleinsein am Pfingstsonntag und Montag mit der unglaublichen Begründung, daß die Eltern nach Franzensbad fahren.

Das Kind mit den zwei kleinen Zöpfchen, bloßem Kopf, losen weißpunktierten rotem Kleidchen, bloßen Beinen und Füßen, das mit einem Körbchen in der einen, mit einem Kistchen in der andern Hand zögernd den Fahrdamm beim Landesteater überschritt.

Das anfängliche Rückenspiel in Madame la mort nach dem Grundsatz: Der Rücken eines Dilettanten ist unter gleichen Verhältnissen so schön wie der Rücken eines guten Schauspielers. Die Gewissenhaftigkeit der Leute!

In den letzten Tagen ausgezeichneter Vortrag von Davis Trietsch über Kolonisation in Palästina.

25 (Mai 1912) Schwaches Tempo, wenig Blut.

27 (Mai 1912) Gestern Pfingstsonntag, kaltes Wetter, nicht schöner Ausflug mit Max und Weltsch.

Abend Kaffeehaus, Werfel gibt mir "Besuch aus dem Elysium"

Ein Teil der Niklasstraße und die ganze Brücke dreht sich gerührt nach einem Hund um, der laut bellend ein Automobil der Rettungsgesellschaft begleitet. Bis der Hund plötzlich abläßt, umkehrt und sich als ein gewöhnlicher fremder Hund zeigt, der mit der Verfolgung des Wagens nichts besonderes meinte.

1 Juni 1912 Nichts geschrieben.

2 Juni (1912) Fast nichts geschrieben.

Gestern Vortrag Dr. Soukup im Repräsentationshaus über Amerika [Die Tschechen in Nebraska, alle Beamten in Amerika werden gewählt, jeder muß einer der drei Parteien (republikanisch, demokratisch, socialistisch) angehören, Wahlversammlung Roosevelts, der einen Farmer, welcher einen Einwand macht, mit seinem Glas bedroht, Straßenredner die als Podium eine kleine Kiste mit sich tragen] dann Frühlingsfest, Paul Kisch getroffen der von seiner Dissertation "Hebbel u. die Tschechen" erzählt. Sein fürchterliches Aussehn. Auswüchse hinten auf dem Hals. Der Eindruck, wenn er von seinen Liebchen spricht.

6 Juni (1912). Donnerstag Frohnleichnam

wie von zwei Pferden im Lauf das eine den Kopf für sich und aus dem Lauf heraus senkt und gegen sich mit der ganzen Mähne schüttelt, dann ihn aufrichtet und jetzt erst scheinbar gesünder den Lauf wieder aufnimmt, den es eigentlich nicht unterbrochen hat.

Jetzt lese ich in Flauberts Briefen:

Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge und ich weiß nichts von dem was in der Welt vorgeht. – Ähnlich wie ich es für mich am 9 V eingetragen habe

Gewichtlos, knochenlos, körperlos zwei Stundenlang durch die Gassen gegangen und überlegt, was ich nachmittag beim Schreiben überstanden habe.

7 Juni (1912). Arg. Heute nichts geschrieben. Morgen keine Zeit.

Montag 6 (8. ) Juli 1912 Ein wenig angefangen. Bin ein wenig verschlafen. Auch verlassen unter diesen ganz fremden Menschen.

9 August (Juli 1912) Solange nichts geschrieben. Morgen anfangen. Ich komme sonst wieder in eine sich ausdehnende unaufhaltsame Unzufriedenheit; ich bin schon eigentlich drin. Die Nervositäten fangen an. Aber wenn ich etwas kann, dann kann ich es ohne abergläubische Vorsichtsmaßregeln.

Die Erfindung des Teufels. Wenn wir vom Teufel besessen sind, dann kann es nicht einer sein, denn sonst lebten wir, wenigstens auf der Erde, ruhig, wie mit Gott, einheitlich, ohne Widerspruch, ohne Überlegung, unseres Hintermannes immer gewiß. Sein Gesicht würde uns nicht erschrecken, denn als Teuflische wären wir bei einiger Empfindlichkeit für diesen Anblick klug genug lieber eine Hand zu opfern, mit der wir sein Gesicht bedeckt hielten. Wenn uns nur ein einziger Teufel hätte mit ruhigem ungestörtem Überblick über unser ganzes Wesen und mit augenblicklicher Verfügungsfreiheit, dann hätte er auch genügende Kraft uns ein menschliches Leben lang so hoch über dem Geist Gottes in uns zu halten und noch zu schwingen, daß wir auch keinen Schimmer von ihm zu sehen bekämen also auch von dort nicht beunruhigt würden. Nur die Menge der Teufel kann unser irdisches Unglück ausmachen. Warum rotten sie einander nicht aus bis auf einen oder warum unterordnen sie sich nicht einem großen Teufel; beides wäre im Sinne des teuflischen Princips, uns möglichst vollkommen zu betrügen. Was nützt denn, solange die Einheitlichkeit fehlt, die peinliche Sorgfalt die sämtliche Teufel für uns haben? Es ist selbstverständlich, daß den Teufeln an dem Ausfallen eines Menschenhaares mehr gelegen sein muß als Gott, denn dem Teufel geht das Haar wirklich verloren, Gott nicht. Nur kommen wir dadurch, solange die vielen Teufel in uns sind noch immer zu keinem Wohlbefinden.

7. (August 1912) Lange Plage. Max endlich geschrieben, daß ich die noch übrigen Stückchen nicht ins Reine bringen kann, mich nicht zwingen will und daher das Buch nicht heraus geben werde.

8 (August 1912) "Bauernfänger" zur beiläufigen Zufriedenheit fertiggemacht. Mit der letzten Kraft eines normalen Geisteszustandes. 12 Uhr, wie werde ich schlafen können?

9 (August 1912) Die aufgeregte Nacht. – Gestern das Dienstmädchen, das zum kleinen Jungen auf der Treppe sagte: "Halt dich an meine Röcke. " – Mein aus Eingebungen fließendes Vorlesen des "Armen Spielmann". – Die Erkenntnis des Männlichen an Grillparzer in dieser Geschichte. Wie er alles wagen kann und nichts wagt, weil schon nur Wahres in ihm ist, das sich selbst bei widersprechendem Augenblickseindruck zur entscheidenden Zeit als Wahres rechtfertigen wird. Das ruhige Verfügen über sich selbst. Der langsame Schritt, der nichts versäumt. Das sofortige Bereitsein, wenn es notwendig ist, nicht früher, denn er sieht alles längst kommen.

10 (August 1912) Nichts geschrieben. In der Fabrik gewesen und im Motorraum 2 Stunden lang Gas eingeatmet. Die Energie des Werkmeisters und des Heizers vor dem Motor, der aus einem unauffindbaren Grunde nicht zünden will. Jammervolle Fabrik.

11 (August 1912) Nichts, nichts. Um wieviel Zeit mich die Herausgabe des kleinen Buches bringt und wieviel schädliches lächerliches Selbstbewußtsein beim Lesen alter Dinge im Hinblick auf das Veröffentlichen entsteht. Nur das hält mich vom Schreiben ab. Und doch habe ich in Wirklichkeit nichts erreicht, die Störung ist der beste Beweis dafür. Jedenfalls werde ich mich jetzt nach Herausgabe des Buches noch viel mehr von Zeitschriften und Kritiken zurückhalten müssen, wenn ich mich nicht damit zufrieden geben will, nur mit den Fingerspitzen im Wahren zu stecken. Wie schwer beweglich ich auch geworden bin! Früher, wenn ich nur ein der augenblicklichen Richtung entgegengesetztes Wort sagte, flog ich auch schon nach der andern Seite, jetzt schaue ich mich bloß an und bleibe wie ich bin.

14 (August 1912)

Brief an Rohwolt

Sehr geehrter Herr Rohwolt!

Hier lege ich die kleine Prosa vor, die Sie zu sehen wünschten; sie ergibt wohl schon ein kleines Buch. Während ich sie für diesen Zweck zusammenstellte, hatte ich manchmal die Wahl zwischen der Beruhigung meines Verantwortungsgefühls und der Gier, unter Ihren schönen Büchern auch ein Buch zu haben. Gewiß habe ich mich nicht immer ganz rein entschieden. Jetzt aber wäre ich natürlich glücklich wenn Ihnen die Sachen auch nur soweit gefielen, daß Sie sie druckten. Schließlich ist auch bei größter Übung und größtem Verständnis das Schlechte in den Sachen nicht auf den ersten Blick zu sehn. Die verbreitetste Individualität der Schriftsteller besteht ja darin, daß jeder auf ganz besondere Weise sein Schlechtes verdeckt.

Ihr ergebener

15 (August 1912) Nutzloser Tag. Verschlafen, verlegen. Marienfeier auf dem Altstädter Ring. Der Mann mit einer Stimme wie aus einem Erdloch. Viel an – was für eine Verlegenheit vor dem Aufschreiben von Namen – Felice Bauer gedacht. Gestern "Polnische Wirtschaft" – Jetzt hat mir Ottla Gedichte von Goethe aufgesagt. Sie wählt mit einem wahren Gefühle aus. Trost in Tränen. An Lotte. An Werther. An den Mond – Alte Tagebücher wieder gelesen, statt diese Dinge von mir abzuhalten. Ich lebe so unvernünftig wie nur möglich. An allem aber ist die Herausgabe der 31 Seiten schuld. Noch mehr schuld allerdings meine Schwäche, die es erlaubt, daß derartiges auf mich Einfluß hat. Statt mich zu schütteln, sitze ich da und denke nach, wie ich das alles möglichst beleidigend ausdrücken könnte. Aber meine schreckliche Ruhe stört mir die Erfindungskraft. Ich bin neugierig darauf, wie ich mich aus diesem Zustand herausfinden werde. Stoßen lasse ich mich nicht, des rechten Weges bin ich mir auch nicht bewußt, wie wird es also werden? Bin ich als große Masse in meinen schmalen Wegen endgiltig festgerannt? – Dann könnte ich doch wenigstens den Kopf drehn. – Das tue ich doch.

16. (August 1912) Nichts weder im Bureau, noch zuhause. Paar Seiten im Weimarer Tagebuch geschrieben.

Abend das Wimmern meiner armen Mutter wegen meines Nichtessens.

20. August (1912).

Die kleinen Jungen, beide in blauen Blusen, einer in heller, der andere kleinere in dunklerer, tragen über den Universitätsbauplatz vor meinem Fenster, der zum Teil wild mit Gras bewachsen ist, mit vollen Armen jeder ein Bündel trockenen Heus. Sie schleppen sich damit einen Abhang hinauf. Annehmlichkeit des Ganzen für die Augen.

Heute früh der leere Leiterwagen und das magere große Pferd davor. Beide, wie sie die letzte Anstrengung machten, einen Abhang hinaufzukommen, ungewöhnlich in die Länge gezogen. Für den Beschauer schief aufgestellt. Das Pferd ein wenig die Vorderbeine gehoben, den Hals seitwärts und aufwärts gestreckt. Darüber die Peitsche des Kutschers.

Wenn Rohwolt es zurückschickte und ich alles wieder einsperren und ungeschehen machen könnte, so daß ich bloß so unglücklich wäre, wie früher.

Frl. Felice Bauer. Als ich am 13. VIII zu Brod kam, saß sie bei Tisch und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. [Ich entfremde ihr ein wenig dadurch, daß ich ihr so nahe an den Leib gehe. Allerdings in was für einem Zustand bin ich jetzt, allem Guten in der Gesamtheit entfremdet und glaube es überdies noch nicht. Wenn mich heute bei Max die litterarischen Nachrichten nicht zu sehr zerstreuen, werde ich noch die Geschichte von dem Blenkelt zu schreiben versuchen. Sie muß nicht lang sein, aber treffen muß sie mich] Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil. Wie sich –

21. VIII (1912) Unaufhörlich Lenz gelesen und mir aus ihm – so steht es mit mir – Besinnung geholt.

Das Bild der Unzufriedenheit, das eine Straße darstellt, da jeder von dem Platz, auf dem er sich befindet, die Füße hebt, um wegzukommen.

30. August (1912) Die ganze Zeit nichts gemacht. Besuch des Onkels aus Spanien. Vorigen Samstag recitierte Werfel im Arco die "Lebenslieder" und das "Opfer". Ein Ungeheuer! Aber ich sah ihm in die Augen und hielt seinen Blick den ganzen Abend.

Ich werde schwer aufzuschütteln sein und bin doch unruhig. Als ich heute nachmittag im Bett lag und jemand einen Schlüssel im Schloß rasch umdrehte, hat ich einen Augenblick lang Schlösser auf dem ganzen Körper wie auf einem Kostümball und in kurzen Zwischenräumen wurde einmal hier einmal dort ein Schloß geöffnet oder zugesperrt.

Umfrage der Zeitschrift "Miroir" über die Liebe in der Gegenwart und über die Veränderungen der Liebe seit der Zeit unserer Großeltern. Eine Schauspielerin antwortete: Niemals hat man so gut geliebt wie heutzutage.

Wie zerworfen und erhoben ich nach dem Anhören von Werfel war! Wie ich mich nachher geradezu wild und ohne Fehler in die Gesellschaft bei den Löwyschen hinlegte.

Diesen Monat, der wegen der Abwesenheit meines Chefs besonders gut hätte benützt werden können, habe ich ohne viel Rechtfertigung (Absendung des Buches an Rohwolt, Abcesse, Besuch des Onkels) vertrödelt und verschlafen. Noch heute nachmittag habe ich mich mit träumerischen Entschuldigungen 3 Stunden auf dem Bett gedehnt.

4 Sept. (1912) Der Onkel aus Spanien. Der Schnitt seines Rockes. Die Wirkung seiner Nähe. Die Detailierung seines Wesens. – Sein Schweben durch das Vorzimmer ins Kloset. Gibt dabei auf eine Ansprache keine Antwort. – Wird weicher von Tag zu Tag, wenn man nicht einen allmählichen Wechsel, sondern auffallende Augenblicke beurteilt. –

5 Sept (1912) Ich frage ihn: Wie soll man das verbinden, daß Du unzufrieden bist, wie Du letzthin sagtest, und daß Du Dich in allem zurechtfindest, wie man immer wieder sieht (und wie es sich mit der solchem Zurechtfinden immer eigentümlichen Rohheit zeigt, dachte ich) Er antwortete, wie es sich in meiner Erinnerung auflöst: "Im Einzelnen bin ich unzufrieden, an das Ganze reicht es nicht heran. Ich nachtmahle öfters in einer kleinen französischen Pension, die sehr vornehm und teuer ist. Ein Zimmer für ein Ehepaar kostet z. B. mit Pension täglich 50 fr. Ich sitze dort also z. B. zwischen einem Legationssekretär der französischen Botschaft und einem spanischen Artilleriegeneral. Mir gegenüber sitzt ein hoher Beamter des Marineministeriums und irgend ein Graf. Ich kenne schon alle gut, setze mich auf meinen Platz mit Gruß nach allen Seiten, rede weil ich in eigener Laune bin, sonst kein Wort, bis auf den Gruß, mit dem ich mich wieder verabschiede. Dann bin ich allein auf der Gasse und kann wirklich nicht einsehn, wozu dieser Abend gedient haben soll. Ich gehe nachhause und bedauere nicht geheiratet zu haben. Natürlich verwischt sich das wieder, sei es, daß ich es zuende denke, sei es daß sich die Gedanken verlaufen. Aber bei Gelegenheit kommt es wieder. "

8. Sept. (1912) Sonntag Vormittag

Gestern Brief an Dr. Schiller

Nachmittag

Wie die Mutter mit stärkster Stimme nebenan unter einer Menge von Frauenzimmern mit kleinen Kindern spielt und mich aus der Wohnung treibt: Nicht weinen! Nicht weinen! u.s.w. Das gehört ihm! Das gehört ihm! u.s. w. Zwei große Menschen! u.s.w. Er will es nicht!.... Aber! Aber! .. Wie hat es Dir in Wien gefallen Dolphi? War es dort schön?... Ich bitte schauen Sie nur seine Hände an.

11 Sept. (1912) Vorvorgestern Abend mit Utitz.

Ein Traum: Ich befand mich auf einer aus Quadern weit ins Meer hineingebauten Landzunge. Irgendjemand oder mehrere Leute waren mit mir, aber das Bewußtsein meiner selbst war so stark, daß ich von ihnen kaum mehr wußte, als daß ich zu ihnen sprach. Erinnerlich sind mir nur die erhobenen Knie eines neben mir Sitzenden. Ich wußte zuerst nicht eigentlich wo ich war, erst als ich mich einmal zufällig erhob, sah ich links vor mir und rechts hinter mir, das weite klar umschriebene Meer mit vielen reihenweise aufgestellten, fest verankerten Kriegschiffen. Rechts sah man Newyork, wir waren im Hafen von Newyork. Der Himmel war grau aber gleichmäßig hell. Ich drehte mich frei, der Luft von allen Seiten ausgesetzt auf meinem Platze hin und her, um alles sehn zu können. Gegen Newyork zu, gieng der Blick ein wenig in die Tiefe, gegen das Meer zu gieng er empor. Nun bemerkte ich auch, daß das Wasser neben uns hohe Wellen schlug und ein ungeheuerer fremdländischer Verkehr sich auf ihm abwickelte. In Erinnerung ist mir nur, daß statt unserer Flöße lange Stämme zu einem riesigen runden Bündel zusammengeschnürt waren, das in der Fahrt immer wieder mit der Schnittfläche je nach der Höhe der Wellen mehr oder weniger auftauchte und dabei auch noch der Länge nach sich in dem Wasser wälzte. Ich setzte mich, zog die Füße an mich, zuckte vor Vergnügen, grub mich vor Behagen förmlich in den Boden ein und sagte: Das ist ja noch interessanter als der Verkehr auf dem Pariser Boulevard.

12. Sept. (1912) Abend Dr. Löw bei uns. Wieder ein Palästinafahrer. Macht die Advokatursprüfung ein Jahr vor Ablauf seiner Koncipientenpraxis und fährt mit 1200 K (in 14 Tagen) nach Palästina. Würde eine Stelle beim Palästinaamt suchen. Alle diese Palästinafahrer (Bergmann, Dr. Kellner) haben gesenkte Blicke, fühlen sich von den Zuhörern geblendet, fahren mit den gestreckten Fingern auf dem Tisch herum, kippen mit der Stimme um, lächeln schwach und halten dieses Lächeln mit etwas Ironie aufrecht. – Dr. Kellner erzählte, daß seine Schüler Chauvinisten sind, immerfort die Makkabäer im Munde haben und ihnen nachgeraten wollen.

Ich merke daß ich dem Dr. Schiller nur deshalb so gern und gut geschrieben habe, weil das Frl. Bauer sich in Breslau, allerdings schon vor 14 Tagen, aufgehalten hat, und eine Witterung dessen noch in der Luft ist, da ich früher viel daran gedacht habe, ihr durch Dr. Schiller Blumen schicken zu lassen.

15. (September 1912) Verlobung meiner Schwester Valli

Aus dem Grunde der Ermattung steigen wir

mit neuen Kräften

Dunkle Herren welche warten bis die Kinder sich entkräften

Liebe zwischen Bruder und Schwester – die Wiederholung der Liebe zwischen Mutter und Vater

Die Vorahnung des einzigen Biographen

Die Höhlung, welche das geniale Werk in das uns Umgebende gebrannt hat, ist ein guter Platz, um sein kleines Licht hineinzustellen. Daher die Anfeuerung, die vom Genialen ausgeht, die allgemeine Anfeuerung, die nicht nur zur Nachahmung treibt.

18. (September 1912) Die gestrigen Geschichten des Hubalek im Bureau. Der Steinklopfer, der ihm auf der Landstraße einen Frosch abbettelte, ihn bei den Füßen festhielt, und mit dreimaligem Beißen zuerst das Köpfchen, dann den Rumpf und endlich die Füße hinunterschlang. – Die beste Methode, Katzen, die ein sehr zähes Leben haben, zu töten: man quetscht den Hals zwischen eine geschlossene Tür und zieht am Schwanz. – Seine Abneigung gegen Ungeziefer. Beim Militär juckte ihn einmal in der Nacht etwas unter der Nase, er griff im Schlaf hin und zerdrückte etwas. Das etwas war aber eine Wanze und er trug den Gestank davon tagelang mit sich herum. – Vier aßen einen fein hergerichteten Katzenbraten, aber nur drei wußten, was sie aßen. Nach dem Essen fiengen die drei zu miauen an, aber der vierte wollte es nicht glauben, erst bis man ihm das blutige Fell zeigte, glaubte er es, konnte nicht rasch genug hinauslaufen, um alles wieder herauszubrechen und war zwei Wochen schwer krank. – Dieser Steinklopfer aß nichts als Brot und was er sonst zufallig an Obst oder an Lebendem bekam und trank nichts, als Branntwein. Schlief im Ziegelschupfen einer Ziegelei. Einmal traf ihn der Hubalek in der Dämmerung auf den Feldern. "Bleib stehn" sagte der Mann oder – Hubalek blieb zum Spaß stehn. "Gib mir deine Zigarette" sagte der Mann weiter. Hub. gab sie ihm. "Gib mir noch eine!" So Du willst noch eine? fragte ihn Hub., hielt seinen Knotenstock für jeden Fall in der Linken bereit und gab ihm mit der rechten einen Schlag ins Gesicht, daß ihm die Zigarette entfiel. Der Mann lief auch, feig und schwach, wie solche Schnapstrinker sind, sofort weg.

Gestern bei Bergmann mit Dr. Löw. Lied von Reb Dovidl, Reb Dovidl, der Wassilkower fährt heint nach Tale. In einer Stadt zwischen Wassilko und Tale gleichgiltig, in Wassilko weinend, in Tale froh gesungen.

19. (September 1912) Kontrollor Pokorny erzählt von der Reise, die er als 13jähriger Junge mit 70 Kreuzer in der Tasche in Begleitung eines Schulkameraden ausführte. Wie sie am Abend in ein Wirtshaus kamen, wo eine ungeheuere Sauferei im Gange war, zu Ehren des Bürgermeisters der vom Militär zurückgekommen war. Mehr als 50 leere Bierflaschen standen auf dem Fußboden. Alles war voll vom Rauch der Pfeifen. Der Gestank der Bierkäsl. Die zwei kleinen Jungen an der Wand. Der betrunkene Bürgermeister, der in der Erinnerung an das Militär überall Ordnung schaffen will, kommt auf sie zu und droht sie als Ausreißer, wofür er sie trotz aller Erklärungen hält, per Schub nachhause befördern zu lassen. Die Jungen zittern, zeigen Ausweiskarten des Gymnasiums, deklinieren mensa, ein halbbetrunkener Lehrer schaut zu, ohne zu helfen. Ohne eine klare Entscheidung über ihr Schicksal zu bekommen, werden sie gezwungen mitzutrinken, sind sehr zufrieden umsonst soviel gutes Bier zu bekommen, das sie sich mit ihren kleinen Mitteln niemals hätten gönnen dürfen. Sie trinken sich voll und legen sich dann tief in der Nacht nach dem Abmarsch der letzten Gäste in diesem Zimmer, das nicht gelüftet wurde, auf dünn aufgeschüttetes Stroh schlafen und schlafen wie Herren. Nur daß um 4 Uhr eine riesige Magd mit dem Besen kommt, keine Zeit zu haben erklärt und sie in den Morgennebel hinausgekehrt hätte, wenn sie nicht freiwillig weggelaufen wären. Als die Stube ein wenig gereinigt war, bekamen sie zwei große Kaffeetöpfe bis hinauf gefüllt auf den Tisch gestellt. Wie sie aber mit dem Löffel in ihrem Kaffee herumrührten, kam immer von Zeit zu Zeit etwas großes, dunkles, rundes an die Oberfläche. Sie dachten, es werde sich mit der Zeit aufklären, und tranken mit Appetit bis sie angesichts des halbleeren Topfes und der dunklen Sache doch Angst bekamen und die Magd um Rat fragten. Da zeigte es sich, daß das Schwarze altes geronnenes Gänseblut war, das von dem vortägigen Festessen her in den Töpfen geblieben war und über das man im Morgendusel den Kaffee einfach eingegossen hatte. Sofort liefen die Jungen heraus und erbrachen alles bis auf das letzte Tröpfchen. Später wurden sie zum Pfarrer vorgerufen, der nach einer kurzen Prüfung aus der Religion feststellte, daß sie brave Jungen seien, ihnen von der Köchin eine Suppe servieren ließ und sie dann mit seinem geistlichen Segen verabschiedete. Diese Suppe und diesen Segen ließen sie sich als Zöglinge eines von Geistlichen geleiteten Gymnasiums in fast allen Pfarrorten geben, durch die sie kamen.

20. (September 1912) Briefe an Löwy und Frl. Taussig gestern, an Frl. Bauer und Max heute.

Es war an einem Sontagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich jetzt im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann den Elbogen auf den Schreibtisch gestützt aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am andern Ufer mit ihrem schwachen Grün. Er dachte darüber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zuhause unzufrieden, vor Jahren schon nach Rußland sich förmlich geflüchtet hatte. Nun betrieb er ein Geschäft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund bei seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren wohl bekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erzählte hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so für ein endgiltiges Junggesellentum ein.

Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nachhause zu kommen, seine Existenz hierherverlegen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen, wofür ja kein Hindernis bestand und im übrigen auf die Hilfe der Freunde vertrauen. Das bedeutete aber nichts anderes als daß man ihm gleichzeitig je schonender desto kränkender sagte, daß seine bisherigen Versuche mißlungen seien, daß er endlich von ihnen ablassen solle, daß er zurückkehren und sich als ein für immer Zurückgekehrter von allen mit großen Augen anstaunen lassen müsse, daß nur seine Freunde etwas verstünden und daß er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen zuhausegebliebenen Kameraden einfach zu folgen habe. Und war es dann noch sicher, daß alle die Plage, die man ihm antun müßte, einen Zweck hätte. Vielleicht gelang es nicht einmal ihn überhaupt nachhausebringen, er sagte ja selbst, daß er die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr verstünde, und so bliebe er dann trotzdem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschläge und den Freunden noch ein Stück mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich dem Rat und würde hier, natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen niedergedrückt, fände sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Beschämung, hätte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr, war es da nicht viel besser für ihn, er blieb in der Fremde so wie er war. Konnte man denn bei solchen Umständen daran denken, daß er es hier tatsächlich vorwärtsbringen würde.

Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man noch überhaupt die briefliche Verbindung aufrechterhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten machen würde. Der Freund war nun schon über drei Jahre nicht in der Heimat gewesen und erklärte dies sehr notdürftig mit der Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Rußland, die demnach also auch die kürzeste Abwesenheit eines kleinen Geschäftsmannes nicht zuließen, während hunderttausende Russen ruhig in der Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gerade für Georg vieles verändert. Von dem Todesfall von Georgs Mutter, der vor etwa zwei Jahren erfolgt war und seit welchem Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte, hatte der Freund wohl noch erfahren und sein Beileid in einem Brief mit einer Trockenheit ausgedrückt, die ihren Grund nur darin haben konnte, daß die Trauer über ein solches Ereignis in der Fremde ganz unvorstellbar wird. Nun hatte aber Georg seit jener Zeit so wie alles andere auch sein Geschäft mit größerer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, daß er im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert, vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter trotzdem er noch immer im Geschäft arbeitete, zurückhaltender geworden, vielleicht spielten – was sogar sehr wahrscheinlich war – glückliche Zufälle eine weit wichtigere Rolle – jedenfalls aber hatte sich das Geschäft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt, das Personal hatte man verdoppeln müssen, der Umsatz hatte sich verfünffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.

Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung. Früher, zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief hatte er Georg zur Auswanderung nach Rußland überreden wollen und sich über die Aussichten verbreitet, die gerade für Georgs Geschäftszweig in Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegenüber dem Umfang den Georgs Geschäft jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben und hätte er es jetzt nachträglich getan, es hätte wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt. So beschränkte sich Georg darauf, dem Freund immer nur über bedeutungslose Vorfälle zu schreiben, wie sie sich, wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung aufhäufen. Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungestört lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl gemacht und mit welcher er sich auch abgefunden hatte. So geschah es Georg, daß er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings der Freund ganz gegen. Georgs Absicht für diese Merkwürdigkeit zu interessieren begann.

Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als daß er zugestanden hätte, daß er selbst vor einem Monat mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld einem Mädchen aus wohlhabender Familie sich verlobt hatte. Oft sprach er mit seiner Braut über diesen Freund und das besondere Korrespondenzverhältnis, in welchem er zu ihm stand. Da wird er gar nicht zu unserer Hochzeit kommen sagte sie und ich habe doch das Recht, alle Deine Freunde kennen zu lernen. "Ich will ihn nicht stören antwortete Georg, versteh mich recht, er würde wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er würde sich gezwungen und geschädigt fühlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unfähig die Unzufriedenheit zu beseitigen allein wieder zurückfahren. Allein – weißt du, was das ist. " "Ja kann er denn von unserer Heirat nicht auf andere Weise erfahren." "Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise unwahrscheinlich." "Aber wirklich wenn Du solche Freunde hast, Georg hättest Du überhaupt nicht heiraten sollen. " "Ja das ist unser beider Schuld, aber ich wollte es doch nicht anders." Und wenn sie dann raschatmend unter seinen Küssen noch vorbrachte "Eigentlich kränkt es mich doch" hielt er es wirklich für unverfänglich dem Freund alles zu schreiben. So bin ich und so hat er mich hinzunehmen sagte er sich. Ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht für die Freundschaft mit ihm geeigneter wäre, als ich es bin.

Und tatsächlich berichtete er seinem Freund in dem langen Brief den er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte Verlobung mit folgenden Worten: "Die beste Neuigkeit habe ich mir zum Schlusse aufgespart. Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenhof verlobt einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie die sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat die Du also kaum kennen dürftest. Es wird sich noch Gelegenheit finden Dir näheres über meine Braut mitzuteilen, heute genüge Dir, daß ich recht glücklich bin und daß sich in unserem gegenseitigen Verhältnisse nur insoferne etwas geändert hat, als Du jetzt in mir statt eines ganz gewöhnlichen einen glücklichen Freund haben wirst. Außerdem bekommst Du in meiner Braut, die dich herzl. grüß. läßt und dir nächstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin was für einen Jungges. nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiß es hält Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurück, wäre aber nicht gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit einmal alle Hindernisse über den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag, handle ohne alle Rücksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung."

Mit diesem Brief in der Hand war G. lange das Gesicht dem Fenster zugekehrt an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten, der ihn im Vorübergehn von der Gasse ausgegrüßt hatte, hatte er kaum mit einem abwesenden Lächeln geantwortet.

Endlich steckte er den Brief in die Tasche und gieng aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst keine Nötigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater ständig im Geschäft, das Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus ein, abend versorgte sich zwar jeder nach Belieben, doch saßen sie meistens, wenn nicht Georg wie es am häufigsten geschah, mit Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte, am Abend noch ein Weilchen jeder mit seiner Zeitung im gemeinsamen Wohnzimmer.

Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater saß beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter ausgeschmückt war, und las die Zeitung, die er seitlich vor den Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien. Ah Georg sagte der Vater und gieng ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehn, die Enden umflatterten ihn, mein Vater ist noch immer ein Riese sagte sich Georg. Hier ist es ja unerträglich dunkel sagte er dann. Ja dunkel ist es schon antwortete der Vater. Das Fenster hast Du auch geschlossen?

Ich habe es lieber so.

Es ist ja ganz warm draußen sagte Georg wie im Nachhang zu dem frühern und setzte sich.

Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.

Ich wollte Dir eigentlich nur sagen fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, daß ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe. Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.

Wieso nach Petersburg? fragte der Vater.

Meinem Freunde doch sagte Georg und suchte des Vaters Augen. Im Geschäft ist er doch ganz anders dachte er. Wie er hier breit sitzt und die Arme über der Brust kreuzt.

Ja. – Deinem Freunde. sagte der Vater mit Betonung.

Du weißt doch Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem andern Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist – das kann ich nicht hindern – aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren.

Und jetzt hast Du es Dir wieder anders überlegt? fragte der Vater und legte die große Zeitung auf den Fensterbord und auf die Zeitung die Brille, die er mit der Hand bedeckte.

Ja jetzt habe ich es mir wieder überlegt. Wenn er mein guter Freund ist sagte ich mir dann ist meine glückliche Verlobung auch für ihn ein Glück. Und deshalb habe ich nicht mehr gezögert es ihm anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es Dir sagen.

Georg sagte der Vater und zog den zahnlosen Mund in die Breite hör einmal. Du bist wegen dieser Sache zu mir gekommen um Dich mit mir zu beraten. Das ehrt Dich ohne Zweifel. Aber es ist nichts, es ist ärger als nichts, wenn Du mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufrühren die nicht hierhergehören. Seit dem Tode unserer teueren Mutter sind gewisse unschöne Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch für sie die Zeit und vielleicht kommt sie früher als wir denken. Im Geschäft entgeht mir manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen – ich will jetzt gar nicht die Annahme machen daß es mir verborgen wird – ich bin nicht mehr kräftig genug, mein Gedächtnis läßt nach, ich habe nicht mehr den Blick für alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur und zweitens hat mich der Tod unseres Mütterchens viel mehr niedergeschlagen als Dich. – Aber weil wir gerade bei dieser Sache halten, bei diesem Briefe, so bitte ich Dich Georg täusche mich nicht. Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Athems wert, also täusche mich nicht. Hast Du wirklich diesen Freund in Petersburg?

Georg stand verlegen auf. Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Weißt Du was ich glaube? Du schonst Dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte. Du bist mir im Geschäft unentbehrlich, das weißt Du ja sehr genau, aber wenn das Geschäft Deine Gesundheit bedrohen sollte, sperre ich es noch morgen für immer. Das geht nicht. Wir müssen da eine andere Lebensweise für Dich einführen. Aber von Grund aus. Du sitzt hier im Dunkel und im Wohnzimmer hättest Du schönes Licht. Du nippst vom Frühstück statt Dich ordentlich zu stärken. Du sitzt bei geschlossenem Fenster und die Luft würde Dir so gut tun. Nein mein Vater. Ich werde den Arzt holen und seinen Vorschriften werden wir folgen. Die Zimmer werden wir wechseln, Du wirst ins Vorderzimmer ziehn, ich hierher. Es wird keine Veränderung für Dich sein, alles wird mit übertragen werden. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege Dich noch ein wenig ins Bett, Du brauchst unbedingt Ruhe. Komm ich werde Dir beim Ausziehn helfen, Du wirst sehn, ich kann es. Oder willst Du gleich ins Vorderzimmer gehn, dann legst Du Dich vorläufig in mein Bett. Das wäre übrigens sehr vernünftig.

Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit dem struppigen weißen Haar auf die Brust hatte sinken lassen.

"Georg" sagte der Vater leise ohne Bewegung.

Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen in dem müden Gesicht des Vaters übergroß in den Winkeln der Augen auf sich gerichtet.

Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spaßmacher gewesen und hast Dich leider auch mir gegenüber nicht zurückgehalten. Wie solltest Du denn gerade dort einen Freund haben. Das kann ich gar nicht glauben.

"Denk doch nur einmal nach Vater" sagte Georg, hob den Vater vom Sessel und zog ihm wie er nun doch recht schwach dastand, den Schlafrock aus. Jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war ja mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, daß Du ihn nicht besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich ihn vor Dir verläugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer saß. Ich konnte ja Deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein Freund hat seine Eigentümlichkeiten. Aber dann hast Du Dich doch wieder auch ganz gut mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so stolz darauf, daß Du ihm zuhörtest, nicktest und fragtest. Wenn Du nachdenkst, mußt Du Dich erinnern. Er erzählte damals unglaubliche Geschichten von der russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer Geschäftsreise in Kiew bei einem Tumult einen armenischen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief. Du hast ja selbst diese Geschichte hie und da wiedererzählt.

Währenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder niederzusetzen und ihm die Trikothosen, die er über den weißen Unterhosen trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick der nicht besonders reinen Wäsche, machte er sich Vorwürfe, den Vater vernachlässigt zu haben. Es wäre sicherlich auch seine Pflicht gewesen über den Wäschewechsel seines Vaters zu wachen. Er hatte mit seiner Braut noch nicht ausdrücklich darüber gesprochen, wie sie die Zukunft des Vaters einrichten wollten, denn sie hatten stillschweigend vorausgesetzt, daß der Vater allein in der alten Wohnung bleiben würde. Doch jetzt entschloß er sich kurz mit aller Bestimmtheit, den Vater in seinen künftigen Haushalt mitzunehmen. Es schien ja fast wenn man genauer zusah, daß die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spät kommen könnte.

Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin merkte, daß der Vater mit seiner Uhrkette spiele. Er konnte ihn nicht gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich an dieser Uhrkette

Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit über die Schulter hinauf. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.

Nicht wahr Du erinnerst Dich schon an ihn fragte Georg und nickte ihm aufmunternd zu.

"Bin ich jetzt gut gedeckt" fragte der Vater als könne er nicht nachschauen, oab die Füße genug bedeckt seien.

Es gefällt Dir also schon im Bett sagte Georg und legte das Deckzeug besser um ihn

Bin ich gut zugedeckt fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen

Sei nur ruhig, Du bist gut zugedeckt.

Nein rief der Vater daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Flug sich ganz entfaltete und stand aufrecht im Bett, nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. "Du wolltest mich zudecken, das weiß ich mein Früchtchen aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für Dich, zu viel für Dich. Wohl kenn ich Deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast Du ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang. Warum sonst? Glaubst Du ich habe nicht um ihn geweint? Darum sperrst Du Dich in Dein Bureau, niemand soll stören, der Chef ist beschäftigt nur damit Du Deine falschen Briefchen nach Rußland schreiben kannst. Aber den Vater muß glücklicherweise niemand lehren den Sohn zu durchschauen. Wie Du geglaubt hast, Du hättest ihn untergekriegt so untergekriegt, daß Du Dich mit Deinem Hintern daraufsetzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen.

Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte, ergriff ihn wie noch nie. Verloren im weiten Rußland sah er ihn. An der Türe des leeren ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwischen den Trümmern der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade noch. Warum hatte er so weit wegfahren müssen.

Aber schau mich an rief der Vater und Georg lief fast zerstreut zum Bett um alles zu fassen stockte aber in der Hälfte des Wegs.

Weil sie die Röcke gehoben hat fieng der Vater zu flöten an weil sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans und er hob um das darzustellen, sein Hemd so hoch, daß man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast Du Dich an sie heran gemacht und damit Du an ihr ohne Störung Dich befriedigen kannst, hast Du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und Deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht?

Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht.

Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater. Vor einer langen Weile hat er sich fest entschlossen, alles vollkommen genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten her, von oben herab gefangen werden könne. Jetzt erinnerte er sich wieder an den längst vergessenen Entschluß und vergaß ihn, wie man einen kurzen Faden durch ein Nadelöhr zieht.

Aber der Freund ist nun doch nicht verraten rief der Vater und sein hin und her bewegter Zeigefinger bekräftigte es. Ich war sein Vertreter hier am Ort.

"Komödiant! " konnte sich Georg zu rufen nicht enthalten, erkannte sofort den Schaden und biß nur zu spät die Augen erstarrt in seine Zunge, daß er vor Schmerz einknickte.

Ja freilich habe ich Komödie gespielt. Komödie, gutes Wort. Welcher andere Trost blieb dem alten verwitweten Vater. Sag – und für den Augenblick der Antwort sei Du noch mein lebender Sohn – was blieb mir übrig in meinem Hinterzimmer, verfolgt vom ungetreuen Personal alt bis in die Knochen. Und mein Sohn gieng im Jubel durch die Welt, schloß Geschäfte ab, die ich vorbereitet hatte, überpurzelte sich vor Vergnügen und gieng vor seinem Vater mit dem verschlossenen Gesicht eines Ehrenmanns davon. Glaubst Du ich hätte Dich nicht geliebt, ich, von dem Du ausgiengst.

Jetzt wird er sich vorbeugen dachte Georg. Wenn er fiele und zerschmetterte! Dieses Wort durchzischte seinen Kopf.

Der Vater beugte sich vor, fiel aber nicht. Da Georg sich nicht näherte, wie er erwartet hatte, erhob er sich wieder.

Bleib wo Du bist, ich brauch Dich nicht. Du denkst Du hast noch die Kraft hierherzukommen und hältst Dich bloß zurück, weil Du so willst. Daß Du Dich nicht irrst. Ich bin noch immer der viel Stärkere. Allein hätte ich vielleicht zurückweichen müssen, aber so hat mir die Mutter ihre Kraft abgegeben, mit Deinem Freund habe ich mich herrlich verbunden, Deine Kundschaft habe ich hier in der Tasche.

Sogar im Hemd hat er Taschen sagte sich Georg und glaubte, er könne ihn mit dieser Bemerkung in der ganzen Welt unmöglich machen. Nur einen Augenblick dachte er das denn immerfort vergaß er alles.

Häng Dich nur in Deine Braut ein und komm mir entgegen. Ich fege sie Dir von der Seite weg, Du weißt nicht wie.

Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht. Der Vater nickte bloß die Wahrheit dessen, was er sagte beteurend in Georgs Ecke hin.

Wie hast Du mich doch heute unterhalten, als Du kamst und fragtest, ob Du Deinem Freund von der Verlobung schreiben sollst. Er weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles. Ich schreib ihm doch, weil Du vergessen hast, mir das Schreibzeug wegzunehmen. Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles hundertmal besser als Du selbst, Deine Briefe zerknüllt er ungelesen in der linken Hand, während er in der Rechten meine Briefe zum Lesen sich vorhält.

Seinen Arm schwang er vor Begeisterung über dem Kopf.

Er weiß alles tausendmal besser rief der Vater.

Zehntausendmal sagte Georg, um den Vater lächerlich zu machen, aber noch in seinem Munde bekam das Wort einen toternsten Klang.

"Seit Jahren passe ich schon auf, daß Du mit dieser Frage kämest. Glaubst Du mich kümmert etwas anderes, glaubst Du ich lese Zeitungen. Da! " Und er warf ihm ein Zeitungsblatt, das irgendwie mit ihm ins Bett getragen worden war, zu. Eine alte Zeitung mit einem Georg schon ganz unbekannten Namen.

Wie lange hast Du gezögert, ehe Du reif geworden bist. Die Mutter mußte sterben, sie konnte den Freudentag nicht erleben, der Freund geht zu Grunde in seinem Rußland, schon vor 3 Jahren war er gelb zum Wegwerfen, und ich, Du siehst ja wie es mit mir steht. Dafür hast Du doch Augen.

Du hast mir also aufgelauert! rief Georg.

Mitleidig sagte der Vater nebenbei: Das wolltest Du wahrscheinlich früher sagen. Das paßt ja gar nicht mehr

Und lauter: Jetzt weißt Du also was es noch außer Dir gab, bisher wußtest Du nur von Dir! Ein unschuldiges Kind warst Du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst Du ein teuflischer Mensch!

"Und darum wisse, ich verurteile Dich jetzt zum Tode des Ertrinkens! "

Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon. Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war heraufzugehn, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen. "Jesus! " rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, wie der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen ein Autoomnibus, das mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise, "liebe Eltern ich habe Euch doch immer geliebt" und ließ sich herabfallen.

In diesem Augenblick gieng über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.

23 (September 1912) Diese Geschichte "das Urteil" habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. Wie es vor dem Fenster blau wurde. Ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke giengen. Um 2 Uhr schaute ich zum letztenmal auf die Uhr. Wie das Dienstmädchen zum ersten Mal durchs Vorzimmer gieng, schrieb ich den letzten Satz nieder. Auslöschen der Lampe und Tageshelle. Die leichten Herzschmerzen. Die in der Mitte der Nacht vergehende Müdigkeit. Das zitternde Eintreten ins Zimmer der Schwestern. Vorlesung. Vorher das Sichstrecken vor dem Dienstmädchen und Sagen: "Ich habe bis jetzt geschrieben". Das Aussehn des unberührten Bettes, als sei es jetzt hereingetragen worden. Die bestätigte Überzeugung, daß ich mich mit meinem Romanschreiben in schändlichen Niederungen des Schreibens befinde. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele. Vormittag im Bett. Die immer klaren Augen. Viele während des Schreibens mitgeführte Gefühle: z. B. die Freude daß ich etwas Schönes für Maxens Arcadia haben werde, Gedanken an Freud natürlich, an einer Stelle an Arnold Beer, an einer andern an Wassermann, an einer (zerschmettern) an Werfels Riesin, natürlich auch an meine "Die städtische Welt"

Ich, nur ich bin der Beobachter des Parterres.

Gustav Blenkelt war ein einfacher Mann mit regelmäßigen Gewohnheiten. Er liebte keinen unnötigen Aufwand und hatte ein sicheres Urteil gegenüber Leuten die solchen Aufwand trieben. Trotzdem er Junggeselle war, fühlte er sich durchaus berechtigt in Eheangelegenheiten seiner Bekannten ein entscheidendes Wörtchen mitzusprechen, und derjenige der eine solche Berechtigung nur in Frage gestellt hätte, wäre schlecht bei ihm angekommen. Er pflegte seine Meinung rund heraus zu sagen und hielt die Zuhörer, denen seine Meinung gerade nicht paßte durchaus nicht zurück. Es gab wie überall Leute die ihn bewunderten, Leute die ihn anerkannten, Leute die ihn duldeten und schließlich solche die nichts von ihm wissen wollten. Es bildet ja jeder Mensch selbst der nichtigste wenn man nur ordentlich zusieht den Mittelpunkt eines hier und dort zusammengedrehten Kreises, wie hätte es bei Gustav Blenkelt einem im Grunde besonders geselligen Menschen anders sein sollen?

Im 35 ten Lebensjahre dem letzten Jahre seines Lebens verkehrte er besonders häufig bei einem jungen Ehepaar namens Strong. Es ist gewiß daß für Herrn Strong, der eben mit dem Gelde seiner Frau eine Möbelhandlung eröffnet hatte, die Bekanntschaft Blenkelts verschiedene Vorteile hatte, da dieser die Hauptmasse seiner Bekannten unter jungen heiratsfähigen Leuten besaß, die früher oder später daran denken mußten, für sich eine neue Möbeleinrichtung zu beschaffen und die schon aus Gewohnheit Ratschläge Rlenkelts auch in dieser Richtung im allgemeinen nicht vernachlässigten. Ich halte sie an festen Zügeln pflegte Blenkelt zu sagen.

24 (September 1912) Meine Schwester sagte: Die Wohnung (in der Geschichte) ist der unsrigen sehr ähnlich. Ich sagte: wieso? Da müßte ja der Vater im Kloset wohnen.

25. (September 1912) Vom Schreiben mich mit Gewalt zurückgehalten. Mich im Bett gewälzt. Den Blutandrang zum Kopf und das nutzlose Vorüberfließen. Was für Schädlichkeiten! – Gestern bei Baum vorgelesen, vor den Baumischen, meinen Schwestern, Marta, Frau Dr. Bloch mit 2 Söhnen (einem Einjährig-Freiwilligen). Gegen Schluß fuhr mir meine Hand unregiert und wahrhaftig vor dem Gesicht herum. Ich hatte Tränen in den Augen. Die Zweifellosigkeit der Geschichte bestätigte sich. – Heute abend mich vom Schreiben weggerissen. Kinematograph im Landesteater. Loge. Frl. Oplatka, welche einmal ein Geistlicher verfolgte. Sie kam ganz naß von Angstschweiß nachhause. Danzig. Körners Leben. Die Pferde. Das weiße Pferd. Der Pulverrauch. Lützows wilde Jagd.

Als der 17 jährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien

Lüfte.

"So hoch" sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehn dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt worden war sagte im Vorübergehn: Ja haben sie denn noch keine Lust auszusteigen? "Ich bin doch fertig" sagte Karl ihn anlachend und hob, aus Übermut und weil er ein starker Junge war, den Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit den andern entfernte, merkte er, daß er seinen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglückt schien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten, überblickte schnell die Situation um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhieng, und mußte sich seinen Weg durch eine Unzahl kleiner Räume, fortwährend abbiegende Korridore, kurze Treppen, die einander aber immer wieder folgten ein leeres Zimmer mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein oder zweimal und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von der Ferne wie einen Hauch das letzte Arbeiten der schon eingestellten Maschine merkte, fieng er ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Türe zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte. "Es ist ja offen" rief es von innen und Karl öffnete mit ehrlichem Aufatmen die Tür. "Warum schlagen sie so verrückt auf die Tür?" fragte ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hinsah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp neben einander wie eingelagert standen. "Ich habe mich verirrt" sagte Karl "ich habe es während der Fahrt gar nicht so bemerkt aber es ist ein schrecklich großes Schiff. " "Ja da haben Sie recht" sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht auf an dem Schloß eines kleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen. "Aber kommen Sie doch herein" sagte der Mann weiter "Sie werden doch nicht draußen stehn. " Störe ich nicht, fragte Karl. "Ach wie werden Sie denn stören." "Sirid Sie ein Deutscher?" suchte sich Karl noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen. "Bin ich, bin ich" sagte der Mann. Karl zögerte noch. Da faßte unversehens der Mann die Türklinke und schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zu sich herein. "Ich kann es nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut" sagte der Mann, der wieder an seinem Koffer arbeitete. "Da lauft jeder vorbei und schaut herein, das soll der Zehnte aushalten." "Aber der Gang ist doch ganz leer" sagte Karl, der unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht dastand. "Ja, jetzt" sagte der Mann. "Es handelt sich doch um jetzt" dachte Georg "mit dem Mann ist schwer zu reden. " "Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz", sagte der Mann. Karl kroch so gut es gieng hinein und lachte dabei laut über den ersten vergeblichen Versuch sich herüberzuschwingen. Kaum war er aber drin, rief er "Gotteswillen, ich habe ja ganz an meinen Koffer vergessen. " "Wo ist er denn?" "Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf ihn. Wie heißt er nur?" Und er zog aus einer Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise im Rockfutter angelegt hatte, eine Visitkarte. Butterbaum, Franz Butterbaum. "Haben Sie den Koffer sehr nötig" "Natürlich. " "Ja warum haben sie ihn dann einem fremden Menschen gegeben?" "Ich hatte meinen Regenschirm unten vergessen und bin gelaufen ihn zu holen, wollte aber den Koffer nicht mitschleppen. Dann habe ich mich auch noch verirrt. " "Sie sind allein? Ohne Begleitung." "Ja, allein." Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten, gieng es Karl durch den Kopf, wo finde ich gleich einen bessern Freund. "Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ich gar nicht" und der Mann setzte sich auf den Sessel, als habe Karls Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. "Ich glaube aber der Koffer ist noch nicht verloren. " "Glauben macht selig" sagte der Mann und kratzte sich kräftig in seinem dunklen kurzen dichten Haar. Auf dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sitten, in Hamburg hätte ihr Butterbaum den Koffer vielleicht bewacht, hier ist höchstwahrscheinlich schon von beiden keine Spur mehr. "Da muß ich aber doch gleich hinaufschauen" sagte Karl und sah sich um wie er herauskommen könnte. "Bleiben Sie nur" sagte der Mann und stieß ihn mit einer Hand gegen die Brust geradezu rauh ins Bett zurück. Warum denn fragte Karl ärgerlich. Weil es keinen Sinn hat sagte der Mann. In einem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehn wir zusammen. Entweder ist der Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe und sie können ihm nachweinen bis an das Ende ihrer Tage oder der Mensch bewacht ihn noch immer, dann ist er ein Dummkopf und soll weiter wachen oder er ist bloß ein ehrlicher Mensch und hat den Koffer stehn gelassen dann werden wir ihn bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden. Ebenso auch ihren Regenschirm. Kennen Sie sich auf dem Schiff aus? fragte Karl mißtrauisch und es schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Gedanke, daß auf dem leeren Schiff seine Sachen am besten zu finden sein würden, einen verborgenen Haken. Ich bin doch Schiffsheizer sagte der Mann. Sie sind Schiffsheizer rief Karl freudig, als überstiege das alle Erwartungen, und sah den Elbogen aufgestützt den Mann näher an. "Gerade vor der Kammer, wo ich mit den Slowacken geschlafen habe, war in der Wand eine Lucke angebracht durch die man in den Maschinenraum sehen konnte. " "Ja dort habe ich gearbeitet" sagte der Heizer. "Ich habe mich immer so für Technik interessiert" sagte Karl, der in einem bestimmten Gedankengang blieb "und ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen." "Warum haben Sie denn fahren müssen?" "Ach was!" sagte Karl und warf die ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd den Heizer an, als bitte er ihn selbst für das nicht Eingestandene um seine Nachsicht. Es wird schon einen Grund gehabt haben sagte der Heizer und man wußte nicht recht, ob er damit die Erzählung dieses Grundes fordern oder abwehren wolle. "Jetzt könnte ich auch Heizer werden" sagte Karl "meinen Eltern ist es jetzt ganz gleichgiltig was ich werde." "Meine Stelle wird frei" sagte der Heizer, steckte im Vollbewußtsein dessen die Hände in die Hosentaschen und warf die Beine, die in faltigen, lederartigen, eisengrauen Hosen steckten, aufs Bett hin, um sie zu strecken. Karl mußte mehr an die Wand rücken. "Sie verlassen das Schiff?" "Jawoll, wir marschieren heuteab." "Warum denn? Gefälltes Ihnen nicht?" Ja, das sind so die Verhältnisse, es entscheidet nicht immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens haben Sie recht es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlich nicht mit Entschlossenheit daran Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am leichtesten werden. Ich also rate ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europa studieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht. Die amerikanischen Universitäten sind ja unvergleichlich besser. " "Das ist ja möglich sagte Karl, aber ich habe ja fast kein Geld zum Studieren. Ich habe zwar von irgend jemandem gelesen, der bei Tag in einem Geschäft gearbeitet und in der Nacht studiert hat, bis er Doktor und ich glaube Bürgermeister wurde. Aber dazu gehört doch eine große Ausdauer, nicht Ich fürchte, die fehlt mir. Außerdem war ich gar kein besonders guter Schüler, der Abschied von der Schule ist mir wirklich nicht schwer geworden. Und die Schulen hier sind vielleicht noch strenger. Englisch kann ich fast gar nicht. Überhaupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen, glaube ich." "Haben Sie das auch schon erfahren? Na, dann ist gut. Dann sind Sie mein Mann. Sehn sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehört der Hamburg Amerika Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff. Glauben Sie nicht – Ihm gieng die Luft aus, er fackelte mit der Hand – daß ich klage um zu klagen. Ich weiß daß Sie keinen Einfluß haben und selbst ein armes Bürschchen sind. Aber es ist zu arg." Und er schlug auf den Tisch mehrmals hart mit der Faust und ließ kein Auge von ihr, während er schlug. Ich habe doch schon auf so vielen Schiffen gedient – und er nannte 20 Namen hinter einander als sei es ein Wort, Karl wurde ganz wirr – und habe mich ausgezeichnet, bin belobt worden, war ein Arbeiter nach dem Geschmack meiner Kapitäne, sogar auf dem gleichen Handelssegler war ich einige Jahre er erhob sich als sei das der Höhepunkt seines Lebens – und hier auf diesem Kasten, wo alles nach der Schnur eingerichtet ist, wo kein Witz erfordert wird – hier taug ich nichts, hier steh ich dem Schubal immer im Wege, bin ein Faulpelz verdiene herausgeworfen zu werden und bekomme meinen Lohn aus Gnade. Verstehn Sie das? Ich nicht. " "Das dürfen Sie sich nicht gefallen lassen" sagte Karl aufgeregt. Er hatte fast das Gefühl davon verloren, daß er auf dem unsichern Boden eines Schiffes an der Küste eines unbekannten Erdteils war, so heimisch war ihm hier auf dem Bett des Heizers zumute. "Waren Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schon bei ihm Ihr Recht gesucht?" "Ach gehn Sie, gehn Sie lieber weg. Ich will Sie nicht hier haben. Sie hören nicht zu, was ich sage und geben mir Ratschläge. Wie soll ich denn zum Kapitän gehn. " Und müde setzte sich der Heizer wieder und legte das Gesicht in beide Hände. "Einen bessern Rat kann ich ihm nicht geben" sagte sich Karl. Und er fand überhaupt, daß er lieber seinen Koffer hätte holen sollen, statt hier Ratschläge zu geben die ja nur für dumm gehalten wurden. Als ihm der Vater den Koffer für immer übergeben hatte, hatte er im Scherz gefragt: Wie lange wirst du ihn haben? und jetzt war dieser teuere Koffer vielleicht schon im Ernst verloren. Der einzige Trost war noch, daß der Vater von seiner jetzigen Lage nicht das allergeringste erfahren konnte, selbst wenn er nachforschen sollte. Nur daß er bis Newyork gekommen war, konnte die Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat es aber Karl daß er die Sachen im Koffer noch kaum verwendet hatte, trotzdem er es beispielsweise längst nötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da hatte er also am unrichtigen Ort gespart; jetzt wo er es gerade am Beginn seiner Laufbahn nötig haben würde, rein gekleidet aufzutreten, würde er im schmutzigen Hemd erscheinen müssen. Das waren schöne Aussichten. Sonst wäre der Verlust des Koffers nicht gar so arg gewesen, denn der Anzug, den er anhatte war so gar besser, als jener im Koffer, der eigentlich nur ein Notanzug war, den die Mutter noch knapp vor der Abreise hatte flicken müssen. Jetzt erinnerte er sich auch, daß im Koffer noch ein Stück Veroneser Salami war, die ihm die Mutter als Extragabe eingepackt hatte von der er jedoch nur den kleinsten Teil hatte aufessen können, da er während der Fahrt ganz ohne Appetit gewesen war und die Suppe, die im Zwischendeck zur Verteilung kam, ihm reichlich genügt hatte. Jetzt hätte er aber die Wurst gern bei der Hand gehabt, um sie dem Heizer zu verehren. Denn solche Leute sind leicht gewonnen wenn man ihnen irgendeine Kleinigkeit zusteckt, das wußte Karl noch von seinem Vater her, welcher durch Cigarrenverteilung alle die niedrigern Angestellten gewann, mit denen er geschäftlich zu tun hatte. Jetzt hatte Karl an Verschenkbarem noch sein Geld bei sich und das wollte er, wenn er schon vielleicht den Koffer verloren haben sollte, vorläufig nicht anrühren. Wieder kehrten seine Gedanken zum Koffer zurück und er konnte jetzt wirklich nicht einsehn, warum er den Koffer während der Fahrt so aufmerksam bewacht hatte, daß ihn die Wache fast den Schlaf gekostet hatte, wenn er jetzt diesen gleichen Koffer so leicht sich hatte wegnehmen lassen. Er erinnerte sich an die fünf Nächte, während derer er einen kleinen Slowacken, der zwei Schlafstellen links von ihm lag, unausgesetzt im Verdacht gehabt hatte, daß er es auf seinen Koffer abgesehen habe. Dieser Slowacke hatte nur darauf gelauert, daß Karl endlich von Schwäche befallen für einen Augenblick einnicke, damit er den Koffer mit einer langen Stange, mit der er immer während des Tages spielte oder übte, zu sich hinüberziehen könne. Bei Tage sah dieser Slowacke genug unschuldig aus, aber kaum war die Nacht gekommen, erhob er sich von Zeit zu Zeit von seinem Lager und sah traurig zu Karls Koffer herüber. Karl konnte dies ganz deutlich erkennen, denn immer hatte hie und da jemand mit der Unruhe des Auswanderers ein Lichtchen angezündet, trotzdem dies nach der Schiffsordnung verboten war und versuchte unverständliche Prospekte der Auswanderungsagenturen zu entziffern. War ein solches Licht in der Nähe, dann konnte Karl ein wenig eindämmern, war es aber in der Ferne oder war es dunkel, dann mußte er die Augen offenhalten. Diese Anstrengung hatte ihn recht erschöpft. Und nun war sie vielleicht ganz umsonst gewesen. Dieser Butterbaum, wenn er ihn einmal irgendwo treffen sollte.

In diesem Augenblick ertönten draußen in weiter Ferne in die bisherige vollkommene Ruhe hinein kleine kurze Schläge wie von Kinderfüßen, sie kamen näher mit verstärktem Klang und nun war es ein ruhiger Marsch von Männern. Sie giengen offenbar, wie es in dem schmalen Gang natürlich war, in einer Reihe, man hörte Klirren wie von Waffen. Karl der schon nahe daran gewesen, sich im Bett zu einem von allen Sorgen um Koffer und Slowacken befreiten Schlafe auszustrecken, schreckte auf und stieß den Heizer an um ihn endlich aufmerksam zu machen, denn der Zug schien mit seiner Spitze die Tür gerade erreicht zu haben. "Das ist die Schiffskapelle sagte der Heizer. Die haben oben gespielt und gehn einpacken. Jetzt ist alles fertig und wir können gehn. Kommen Sie. " Er faßte Karl bei der Hand, nahm noch im letzten Augenblick ein Muttergottesbild von der Wand über dem Bett, stopfte es in seine Brusttasche, ergriff seinen Koffer und verließ mit Karl eilig die Kabine.

Jetzt gehe ich ins Bureau und werde den Herren meine Meinung sagen. Es ist niemand mehr da, man muß keine Rücksichten nehmen wiederholte der Heizer verschiedenartig und wollte im Gehn mit Seitwärtsstoßen des Fußes eine den Weg kreuzende Ratte niedertreten, stieß sie aber bloß schneller in das Loch hinein, das sie noch rechtzeitig erreicht hatte. Er war überhaupt langsam in seinen Bewegungen, denn wenn er auch lange Beine hatte, so waren sie doch zu schwer.

Sie kamen durch eine Abteilung der Küche, wo einige Mädchen in schmutzigen Schürzen – sie begossen sie absichtlich – Geschirr in großen Bottichen reinigten. Der Heizer rief eine gewisse Line zu sich legte den Arm um ihre Hüfte und führte sie, die sich immerzu kokett gegen seinen Arm drückte, ein Stückchen mit. "Es gibt jetzt Auszahlung, willst Du mit?" fragte er. "Warum soll ich mich bemühn bring mir das Geld lieber mit." antwortete sie, schlüpfte unter dem Arm durch und lief davon. "Wo hast Du denn den schönen Knaben aufgegabelt" rief sie noch, wollte aber keine Antwort mehr. Man hörte das Lachen aller Mädchen, die ihre Arbeit unterbrochen hatten.

Sie giengen aber weiter und kamen an eine Türe, die oben einen kleinen Vorgiebel hatte, der von kleinen vergoldeten Karyatiden getragen war. Für eine Schiffseinrichtung sah das recht verschwenderisch aus. Karl war, wie er merkte niemals in diese Gegend gekommen, die wahrscheinlich während der Fahrt den Passagieren der ersten und zweiten Klasse vorbehalten war, während jetzt vor der großen Schiffsreinigung die Trennungstüren ausgehoben waren. Sie waren auch tatsächlich einigen Männern schon begegnet, die Besen an der Schulter trugen und den Heizer gegrüßt hatten. Karl staunte über den großen Betrieb, in seinem Zwischendeck hatte er davon freilich wenig erfahren. Entlang der Gänge zogen sich auch Drähte elektrischer Leitungen und eine kleine Glocke hörte man immerfort.

Der Heizer klopfte respektvoll an der Türe an und forderte, als man herein rief, Karl mit einer Handbewegung auf, ohne Furcht einzutreten. Er trat auch ein, aber blieb an der Türe stehn. Vor den drei Fenstern des Zimmers sah er die Wellen des Meeres und bei Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegung schlug ihm das Herz, als hätte er nicht fünf lange Tage das Meer ununterbrochen gesehn. Große Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben dem Wellenschlag nur soweit nach als es ihre Schwere erlaubte. Wenn man die Augen klein machte, schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken. Auf ihren Masten trugen sie schmale aber lange Flaggen, die zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber noch hin und her zappelten. Wahrscheinlich von Kriegschiffen her erklangen Salutschüsse, die Kanonenrohre eines solchen nicht allzuweit vorüberfahrenden Schiffes strahlend mit dem Reflex ihres Stahlmantels waren wie gehätschelt von der sichern, glatten und doch nicht wagrechten Fahrt. Die kleinen Schiffchen und Boote konnte man wenigstens von der Tür aus nur in der Ferne beobachten, wie sie in Mengen in die Öffnungen zwischen den großen Schiffen einliefen. Hinter alledem aber stand Newyork und sah Karl mit den hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja in diesem Zimmer wußte man, wo man war.

An einem runden Tisch saßen 3 Herren, der eine ein Schiffsofficier in blauer Schiffuniform, die zwei andern, Beamte der Hafenbehörde, in schwarzen amerikanischen Uniformen. Auf dem Tisch lagen hochaufgeschichtet verschiedene Dokomente, welche der Officier zuerst mit der Feder in der Hand überflog, um sie dann den beiden andern zu reichen, die bald lasen, bald excerpierten, bald in ihre Aktentaschen einlegten, wenn nicht gerade der eine, der fast ununterbrochen ein kleines Geräusch mit den Zähnen vollführte, seinem Kollegen etwas in ein Protokoll diktierte.

Am Fenster saß an einem Schreibtisch, den Rücken der Türe zugewendet ein kleinerer Herr, der mit großen Folianten hantierte, die auf einem starken Bücherbrett in Kopfhöhe vor ihm nebeneinandergereiht waren. Neben ihm stand eine offene wenigstens auf den ersten Blick leere Kassa.

Das zweite Fenster war leer und gab den besten Ausblick. In der Nähe des dritten aber standen zwei Herren in halblautem Gespräch. Der eine lehnte neben dem Fenster, trug auch die Schiffsuniform und spielte mit dem Griff des Degens. Derjenige, mit dem er sprach, war dem Fenster zugewendet und enthüllte hie und da durch eine Bewegung einen Teil der Ordensreihe auf der Brust des andern. Er war in Civil und hatte ein dünnes Bambusstöckchen, das, da er beide Hände an den Hüften festhielt, auch wie ein Degen abstand.

Karl hatte nicht viel Zeit alles anzusehn, denn bald trat ein Diener auf sie zu und fragte den Heizer mit einem Blick, als gehöre er nicht hierher, was er denn wolle. Der Heizer antwortete so leise als er gefragt wurde, er wolle mit dem Herrn Oberkassier reden. Der Diener lehnte für seinen Teil mit einer Handbewegung diese Bitte ab, gieng aber dennoch auf den Fußspitzen dem runden Tisch im großen Bogen ausweichend zu dem Herrn mit den Folianten. Dieser Herr, das sah man deutlich, erstarrte geradezu unter den Worten des Dieners, sah sich aber endlich nach dem Manne um, der ihn zu sprechen wünschte, fuchtelte dann streng abwehrend gegen den Heizer und der Sicherheit halber auch gegen den Diener hin. Der Diener kehrte daraufhin zum Heizer zurück und sagte in einem Tone, als vertraue er ihm etwas an: "Scheren Sie sich sofort aus dem Zimmer! "

Der Heizer sah nach dieser Antwort zu Karl hinunter, als sei dieser sein Herz dem er stumm seinen Jammer klage. Ohne weitere Besinnung machte sich Karl los, lief quer durchs Zimmer, daß er sogar leicht an den Sessel des Offiziers streifte, der Diener lief gebeugt mit zum Umfangen bereiten Armen, als jage er ein Ungeziefer, aber Karl war der erste beim Tisch des Oberkassiers, wo er sich festhielt für den Fall, daß der Diener versuchen sollte ihn fortzuziehn.

Natürlich wurde gleich das ganze Zimmer lebendig. Der Schiffsoffizier am Tisch war aufgesprungen, die Herren von der Hafenbehörde sahen ruhig aber aufmerksam zu, die beiden Herren am Fenster waren nebeneinander getreten, der Diener, der glaubte, er sei dort, wo schon die hohen Herren Interesse zeigten, nicht mehr am Platze, trat zurück. Der Heizer an der Türe wartete angespannt auf den Augenblick, bis seine Hilfe nötig würde. Der Oberkassier endlich machte in seinem Lehnsessel eine große Rechtswendung.

Karl kramte aus seiner Geheimtasche, die er den Blicken dieser Leute zu zeigen keine Bedenken hatte, seinen Reisepaß hervor, den er statt weiterer Vorstellung geöffnet auf den Tisch legte. Der Oberkassier schien diesen Paß für nebensächlich zu halten, denn er schnippte ihn mit zwei Fingern beiseite, worauf Karl, als sei diese Formalität zur Zufriedenheit erledigt, den Paß wieder einsteckte. "Ich erlaube mir zu sagen, begann er dann, daß meiner Meinung nach dem Herrn Heizer Unrecht geschehen ist. Es ist hier ein gewisser Schubal, der ihm aufsitzt. Er selbst hat schon auf vielen Schiffen, die er ihnen alle nennen kann, zur vollständigen Zufriedenheit gedient, ist fleißig, meint es mit seiner Arbeit gut und es ist wirklich nicht einzusehn, warum er gerade auf diesem Schiff, wo doch der Dienst nicht so übermäßig schwer ist, wie z. B. auf Handelsseglern, schlecht entsprechen sollte. Es kann daher nur Verläumdung sein, die ihn in seinem Vorwärtskommen hindert und ihn um die Anerkennung bringt, die ihm sonst ganz bestimmt nicht fehlen würde. Ich habe nur das Allgemeine über diese Sache gesagt, seine besondern Beschwerden wird er ihnen selbst vorbringen." Karl hatte sich mit dieser Sache an alle Herren gewendet weil ja tatsächlich auch alle zuhörten und es viel wahrscheinlicher schien, daß sich unter allen zusammen ein Gerechter vorfand, als daß dieser Gerechte gerade der Oberkassier sein sollte. Aus Schlauheit hatte außerdem Karl verschwiegen, daß er den Heizer erst so kurze Zeit kannte. Im übrigen hätte er noch viel besser gesprochen, wenn er nicht durch das rote Gesicht des Herrn mit dem Bambusstöckchen beirrt worden wäre, den er von seinem jetzigen Standort überhaupt zum erstenmal erblickte.

"Es ist alles Wort für Wort richtig" sagte der Heizer, ehe ihn noch jemand gefragt, ja ehe man noch überhaupt auf ihn hingesehen hatte. Diese Übereiltheit des Heizers wäre ein großer Fehler gewesen, wenn nicht der Herr mit den Orden, der wie es jetzt Karl aufleuchtete jedenfalls der Kapitän war, offenbar mit sich bereits übereingekommen wäre, den Heizer anzuhören. Er streckte nämlich die Hand aus und rief zum Heizer: Kommen Sie her! mit einer Stimme, fest, um mit einem Hammer darauf zu schlagen. Jetzt hieng alles vom Benehmen des Heizers ab, denn was die Gerechtigkeit seiner Sache anbelangte, an der zweifelte Karl nicht.'

Glücklicherweise zeigte sich bei dieser Gelegenheit, daß der Heizer schon viel in der Welt herumgekommen war. Musterhaft ruhig nahm er aus seinem Kofferchen mit dem ersten Griff ein Bündelchen Papiere sowie ein Notizbuch, gieng damit, als verstünde sich das von selbst unter vollständiger Vernachlässigung des Oberkassiers zum Kapitän und breitete auf dem Fensterbrett seine Beweismittel aus. Dem Oberkassier blieb nichts übrig, als sich selbst hinzubemühn. "Der Mann ist ein bekannter Querulant" sagte er zur Erklärung "er ist mehr in der Kassa als im Maschinenraum. Er hat Schubal diesen ruhigen Menschen ganz zur Verzweiflung gebracht." "Hören Sie einmal!" wandte er sich an den Heizer "Sie treiben Ihre Zudringlichkeit doch schon wirklich zu weit. Wie oft hat man sie schon aus den Auszahlungsräumen herausgeworfen, wie sie es mit ihren ganz, vollständig und ausnahmslos unberechtigten Forderungen verdienen! Wie oft sind Sie von dort hierher in die Hauptkassa gelaufen gekommen! Wie oft hat man Ihnen im Guten gesagt, daß Schubal ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist, mit dem allein Sie sich als sein Untergebener abzufinden haben! Und jetzt kommen Sie gar noch her, wenn der Herr Kapitän da ist, schämen sich nicht nur, sogar ihn zu belästigen, sondern entblöden sich nicht, als eingelernten Stimmführer ihrer abgeschmackten Beschuldigungen diesen Kleinen mitzubringen, den ich überhaupt zum erstenmal auf dem Schiffe sehe. "

Karl hielt sich mit Gewalt zurück, vorzuspringen. Aber da war auch schon der Kapitän da, welcher sagte "Hören wir den Mann doch einmal an. Der Schubal wird mir so wie so mit der Zeit viel zu selbstständig, womit ich aber nichts zu Ihren Gunsten gesagt haben will. " Das letztere galt dem Heizer, es war nur natürlich, daß er sich nicht sofort für ihn einsetzen konnte, aber alles schien auf dem richtigen Weg. Der Heizer begann seine Erklärungen und überwand sich gleich am Anfang, indem er den Schubal mit Herr titulierte. Wie freute sich Karl am verlassenen Schreibtisch des Oberkassiers, wo er eine Briefwage immer wieder niederdrückte vor lauter Vergnügen. Herr Schubal ist ungerecht. Herr Schubal bevorzugt die Ausländer. Herr Schubal verwies den Heizer aus dem Maschinenraum und ließ ihn Klosete reinigen, was doch gewiß nicht des Heizers Sache war. Einmal wurde sogar die Tüchtigkeit des Herrn Schubal angezweifelt, die eher scheinbar, als wirklich vorhanden sein sollte. Bei dieser Stelle starrte Karl mit aller Kraft den Kapitän an, zutunlich als sei er sein Kollege, nur damit er sich durch die etwas ungeschickte Ausdrucksweise des Heizers nicht zu seinen Ungunsten einflussen lasse. Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts eigentliches und wenn auch der Kapitän noch immer vor sich hinsah, in den Augen die Entschlossenheit den Heizer diesmal bis zu Ende anzuhören, so wurden doch die andern Herren ungeduldig und die Stimme des Heizers regierte bald nicht mehr unumschränkt in dem Raum, was manches befürchten ließ. Als erster setzte der Herr in Civil sein Bambusstöckchen in Tätigkeit und klopfte, wenn auch nur leise auf das Parkett. Die andern Herren sahen natürlich hie und da hin, die Herren von der Hafenbehörde, die offenbar pressiert waren, griffen wieder zu den Akten und begannen, wenn auch noch etwas geistesabwesend sie durchzusehn, der Schiffsofficier rückte seinem Tische wieder näher und der Oberkassier, der gewonnenes Spiel zu haben glaubte, seufzte aus Ironie tief auf. Von der allgemein eintretenden Zerstreuung schien nur der Diener bewahrt, der von den Leiden des unter die Großen gestellten armen Mannes einen Teil mitfühlte und Karl ernst zunickte, als wolle er damit etwas erklären.

Inzwischen gieng vor den Fenstern das Hafenleben weiter, ein flaches Lastschiff mit einem Berg von Fässern, die wunderbar verstaut sein mußten, daß sie nicht ins Rollen kamen, zog vorüber und erzeugte in dem Zimmer fast Dunkelheit, kleine Motorboote, die Karl jetzt, wenn er Zeit gehabt hätte, genau hätte ansehn können rauschten nach den Zuckungen der Hände eines am Steuer aufrecht stehenden Mannes, schnurgerade dahin, eigentümliche Schwimmkörper tauchten hie und da selbständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich wieder überschwemmt und versanken vor dem erstaunten Blick, Boote der Ozeandampfer wurden von heiß arbeitenden Matrosen vorwärtsgerudert und waren voll von Passagieren, die darin, so wie man sie hineingezwängt hatte still und erwartungsvoll saßen, wenn es auch manche nicht unterlassen konnten die Köpfe nach den wechselnden Scenerien zu drehn. Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke.

Aber alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung, aber was tat der Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß, die Papiere auf dem Fenster konnte er längst mit seinen zitternden Händen nicht mehr halten, aus allen Himmelrichtungen strömten ihm Klagen über Schubal zu, von denen seiner Meinung nach jede einzelne genügt hätte diesen Schubal vollständig zu begraben, aber was er dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein trauriges Durcheinanderstrudeln aller insgesamt. Längst schon pfiff der Herr mit dem Bambusstöckchen schwach zur Decke hinauf, die Herren von der Hafenbehörde hielten schon den Officier an ihrem Tisch und machten keine Miene ihn je wieder loszulassen, der Oberkassier wurde sichtlich nur durch die Ruhe des Kapitäns vor dem Dreinfahren zurückgehalten, wonach es ihn juckte. Der Diener erwartete in Habtachtstellung jeden Augenblick einen auf den Heizer bezüglichen Befehl seines Kapitäns.

Da konnte Karl nicht mehr untätig bleiben. Er gieng also langsam zu der Gruppe hin und überlegte im Gehn nur desto schneller, wie er die Sache möglichst geschickt angreifen könnte. Es war wirklich höchste Zeit, noch ein kleines Weilchen nur und sie konnten ganz gut beide aus dem Bureau fliegen. Der Kapitän mochte ja ein guter Mann sein und überdies gerade jetzt, wie es Karl schien, einen besondern Grund haben, sich als gerechter Vorgesetzter zu zeigen, aber schließlich war er kein Instrument, das man in Grund und Boden spielen konnte – und gerade so behandelte ihn der Heizer, allerdings aus seinem grenzenlos empörten Inneren heraus.

Karl sagte also zum Heizer "Sie müssen das einfacher erzählen, klarer, der Herr Kapitän kann das nicht würdigen so wie Sie es ihm erzählen. Kennt er denn alle Maschinisten und Laufburschen bei Namen, oder gar beim Taufnamen, daß er, wenn sie nur einen solchen Namen aussprechen gleich wissen kann, um wen es sich handelt. Ordnen sie doch Ihre Beschwerden, sagen sie die Wichtigste zuerst und absteigend die andern vielleicht wird es dann überhaupt nicht mehr nötig sein, die meisten auch nur zu erwähnen. Mir haben Sie es doch immer so klar dargestellt. " Wenn man in Amerika Koffer stehlen kann, kann man auch hie und da lügen, dachte er zur Entschuldigung.

Wenn es aber nur geholfen hätte! Ob es nicht auch schon zu spät war? Der Heizer unterbrach sich zwar sofort, als er die bekannte Stimme hörte, aber mit seinen Augen, die ganz von Tränen, der beleidigten Mannesehre, der schrecklichen Erinnerungen, der äußersten gegenwärtigen Not verdeckt waren, konnte er Karl schon nicht einmal gut mehr erkennen. Wie sollte er auch jetzt, Karl sah das schweigend vor dem jetzt Schweigenden wohl ein, wie sollte er auch jetzt plötzlich seine Redeweise ändern, da es ihm doch schien, als hätte er alles was zu sagen war ohne die geringste Anerkennung schon vorgebracht und als habe er andererseits noch gar nichts gesagt und könne doch den Herren jetzt nicht zumuten, noch alles anzuhören. Und in einem solchen Zeitpunkt kommt noch Karl sein einziger Anhänger daher, will ihm gute Lehren geben, zeigt ihm aber statt dessen, daß alles alles verloren ist.

Wäre ich früher gekommen, statt aus dem Fenster zu schauen sagte sich Karl, senkte vor dem Heizer das Gesicht und schlug die Hände an die Hosennaht zum Zeichen des Endes jeder Hoffnung.

Aber der Heizer mißverstand das, witterte wohl in Karl irgendwelche geheime Vorwürfe gegen sich und in der guten Absicht sie ihm auszureden fieng er zur Krönung seiner Taten mit Karl jetzt zu streiten an. Jetzt, wo doch die Herren am runden Tisch längst empört über den nutzlosen Lärm waren, der ihre wichtigen Arbeiten störte, wo der Hauptkassier allmählich die Geduld des Kapitäns unverständlich fand und zum sofortigen Ausbruch neigte, wo der Diener ganz wieder in der Sphäre seiner Herrn den Heizer mit wildem Blicke maß und wo endlich der Herr mit dem Bambusstöckchen, zu welchem sogar der Kapitän hie und da freundschaftlich hinübersah schon gänzlich abgestumpft gegen den Heizer ja von ihm angewidert, ein kleines Notizbuch hervorzog und offenbar mit ganz andern Angelegenheiten beschäftigt die Augen zwischen dem Notizbuch und Karl hin- und her wandern ließ.

Ich weiß ja, ich weiß ja sagte Karl der Mühe hatte den jetzt gegen ihn gekehrten Schwall des Heizers abzuwehren trotzdem aber quer durch allen Streit noch ein Freundeslächeln für ihn übrig hatte. Sie haben recht, recht, ich habe ja nie daran gezweifelt. Er hätte ihm gern die herumfahrenden Hände aus Furcht vor Schlägen gehalten, noch lieber allerdings ihn in einen Winkel gedrängt um ihm ein paar leise beruhigende Worte zuzuflüstern, die niemand sonst hätte hören müssen. Aber der Heizer war außer Rand und Band. Karl begann jetzt schon sogar aus dem Gedanken eine Art Trost zu schöpfen, daß der Heizer im Notfall mit der Kraft seiner Verzweiflung alle anwesenden sieben Männer bezwingen könne. Allerdings lag auf dem Schreibtisch wie ein Blick dorthin lehrte ein Aufsatz mit viel zu vielen Druckknöpfen der elektrischen Leitung und eine Hand, einfach auf sie niedergedrückt, konnte das ganze Schiff mit allen seinen von feindlichen Menschen gefüllten Gängen rebellisch machen.

Da trat der doch so uninteressierte Herr mit dem Bambusstöckchen auf Karl zu und fragte nicht überlaut, aber deutlich über allem Geschrei des Heizers: Wie heißen Sie denn eigentlich? In diesem Augenblick, als hätte jemand hinter der Tür auf diese Äußerung des Herrn gewartet klopfte es. Der Diener sah zum Kapitän hinüber, dieser nickte. Daher gieng der Diener zur Tür und öffnete sie. Draußen stand in einem alten Kaiserrock ein Mann von mittlern Proportionen, seinem Aussehn nach nicht eigentlich zur Arbeit an den Maschinen geeignet und war doch – Schubal. Wenn es Karl nicht an aller Augen erkannt hätte, die eine gewisse Befriedigung ausdrückten, von der nicht einmal der Kapitän frei war, er hätte es zu seinem Schrecken am Heizer sehen müssen, der die Fäuste an den gestrafften Armen so ballte, als sei diese Ballung das Wichtigste an ihm, dem er alles was er an Leben habe zu opfern bereit sei. Da steckte jetzt alle seine Kraft, auch die, welche ihn überhaupt aufrecht erhielt.

Und da war also der Feind frei und frisch im Festanzug, unter dem Arm ein Geschäftsbuch, wahrscheinlich die Lohnlisten und Arbeitsausweise des Heizers und sah mit dem ungescheuten Zugeständnis, daß er die Stimmung jedes einzelnen vor allem feststellen wolle in aller Augen der Reihe nach. Die sieben waren auch schon alle seine Freunde, denn wenn auch der Kapitän früher gewisse Einwände gegen ihn gehabt oder vielleicht auch nur vorgeschützt hatte, nach dem Leid, das ihm der Heizer angetan hatte, schien ihm wahrscheinlich an Schubal auch das Geringste nicht mehr auszusetzen. Gegen einen Mann wie den Heizer konnte man nicht streng genug verfahren und wenn

(Fortsetzung im 2ten Heft)


Revision: 2021/01/09 - 23:40 - © Mauro Nervi




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